1. Entscheidungen des Presserats

Zu der im Titel gestellten aktuellen Frage gibt es zwei interessante medienethische Ent- scheidungen des Presserats, der Selbstkontrolleinrichtung für die österreichischen Printmedien.1 Die erste Entscheidung betrifft einen Artikel, in dem aus verschiedenen Chats und SMS von Mitgliedern der türkis-blauen Bundesregierung zitiert wurde.2 In den Chats kamen ua Absprachen zur Mindestpension und einem geplanten ORF-Gesetz vor. Im Artikel wurden auch mehrere SMS zwischen dem damaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz und dem damaligen Vizekanzler HC Strache zusammengefasst. Die zwei Parteichefs hatten in rauem Ton über rechtsextreme Vorfälle in der FPÖ diskutiert.

Die zweite Entscheidung bezieht sich auf einen Artikel über Chats zwischen einem nunmehr suspendierten Sektionschef des Justizministeriums und einem ehemaligen ÖVP-Justizminister, der zum damaligen Zeitpunkt Verfassungsrichter war.3 Der Ex- Politiker hatte sich gegenüber dem Spitzenbeamten ua folgendermaßen geäußert: „ [Die WKStA] outet sich mehr und mehr als SPÖ-lastig. Eigentlich ein Wahnsinn. [...] Ich würde als BM ernsthaft Ermittlungen [...] einleiten.“ Schließlich sichert er dem Beamten auch noch Unterstützung zu: „Du kannst immer auf Türkis und Schwarz zählen.“4

In beiden Fällen haben die zuständigen Senate des Presserats beschlossen, kein Verfahren einzuleiten. In den Begründungen dazu finden sich einige interessante Aspek- te. Die Senate weisen zunächst darauf hin, dass die Kontrolle der staatlichen Gewal- ten zu den Kernaufgaben der Medien zähle; sie nehmen die Rolle eines „Public Watchdogs“ ein. Bei der Erfüllung dieser Kontrollfunktion reiche die Pressefreiheit besonders weit.

Nach Auffassung der Senate genießen Politiker_innen und Spitzenbeamt_innen zu- dem weniger Persönlichkeitsschutz als Privatpersonen. Dies sei damit zu rechtfertigen, dass diese Personengruppe in Ausübung ihres Amtes in besonderem Ausmaß am öffentlichen Leben teilnehme; jeder Auftritt stehe unter genauer und kritischer Beobachtung.5

Vollkommen auf den Schutz ihrer Persönlichkeitssphäre verzichten müssen sie jedoch nicht, auch ihnen gestehen die Senate des Presserats einen gewissen Privatbereich zu. Beim Privatsphärenschutz von Politiker_innen müsse den Senaten zufolge allerdings das schutzwürdige Interesse an der Vertraulichkeit der Kommunikation gegen ein allfälliges Interesse der Öffentlichkeit an der Bekanntgabe des Kommunikationsinhalts sorgfältig abgewogen werden (s Punkt 10 des Ehrenkodex für die österreichische Presse).

Die in den Artikeln zitierten Chats waren nach Auffassung der Senate für die Öffentlichkeit bedeutsam, da sie wichtige politische Belange betrafen. Es ging darin ua um geheime Gesetzesabsprachen, den Umgang von Regierungsmitgliedern untereinander und abfällige Äußerungen über die Justiz. Den Senaten zufolge überwog das Inter- esse der Allgemeinheit an der Information über diese Vorgänge deutlich gegenüber den Geheimhaltungsinteressen der betroffenen Gesprächspartner_innen. Ferner spiel- te es für die Senate auch eine Rolle, dass die Chats an einen parlamentarischen Unter- suchungsausschuss geliefert worden waren.6 Es hatte also eine intensive politische Debatte über die Chats gegeben. Die beiden Senate betonten zudem, dass die Chats auf ihren Inhalt bezogen die Privatsphäre der Betroffenen – wenn überhaupt – lediglich berühren.

 

2. Rechtliche Betrachtung

Die medienethischen Argumente der Presseratssenate, die ausschließlich anhand der Be- stimmungen des „Ehrenkodex für die österreichische Presse“ ihre Entscheidung treffen,7 sind meiner Ansicht nach durchaus auch für die rechtliche Bewertung der Sachverhalte relevant. Das ist nicht weiter ungewöhnlich, da es gerade beim Persönlichkeitsschutz große Überschneidungen zwischen Medienethik und Medienrecht gibt.8

Im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von SMS und Chatnachrichten9 von Politiker_innen bietet sich vor allem § 77 UrhG10 als Anspruchsgrundlage gegenüber Medien an. Diese persönlichkeitsrechtliche Spezialbestimmung zum Schutz der Privat- sphäre erfasst nämlich nicht nur Briefe und Tagebücher, sondern auch ähnliche ver- trauliche Aufzeichnungen. SMS und Chatnachrichten sind als derartige Aufzeichnun- gen einzustufen – in Bezug auf Chatprotokolle hat dies der OGH bereits ausdrücklich festgehalten.11

Ob eine Information als vertraulich iSd Bestimmung gilt, ist allein anhand der Intention der_des Verfasser_in zu beurteilen, die Kommunikation bloß an einen bestimmten Emp- fänger_innenkreis zu richten.12 Bei den vorliegenden Chats ist es offensichtlich, dass die Mitteilenden von Vertraulichkeit ausgegangen sind. Das alleine genügt jedoch nicht, da- mit der Schutz nach § 77 UrhG greift; es muss vielmehr auch zu einer Verletzung der berechtigten Interessen der Betroffenen kommen (so wie bei Eingriffen in das Recht am eigenen Bild nach § 78 UrhG). Daraus ergibt sich, dass eine umfassende Interessenabwägung zwischen den Vertraulichkeitsinteressen der Mitteilenden und den Informations- interessen des Mediums durchzuführen ist.13 Liegt ein höhergradiges Veröffentlichungsinteresse des Mediums vor, kann sich ein_e Politiker_in nicht erfolgreich auf § 77 UrhG berufen.14 Anders formuliert: Die Vertraulichkeitsatmosphäre indiziert zwar den Privatsphäreneingriff, sie ist jedoch nicht unbegrenzt geschützt.

In concreto beziehen sich die vertraulichen Inhalte durchwegs – wie auch die Senate des Presserats festgestellt haben – auf öffentlich relevante Themen. Die Mitteilenden tauschten sich in den Chats nicht über private Inhalte aus, sondern über politische.15 Aus den Chatinhalten ergeben sich geheime Absprachen und Pflichtwidrigkeiten, die nicht nur zu einer intensiven politischen Debatte, sondern – nach der Veröffentlichung von weiteren Chats – zu einer Suspendierung bzw Rücktritten von mehreren Betroffenen und tw auch zu strafrechtlichen Ermittlungen führten. Die öffentliche Erörterung der Chats mag zwar von den Betroffenen als peinlich empfunden werden und sie hat – sogar recht massive – nachteilige Folgen für sie.16 Aufgrund der politischen Relevanz müssen die Betroffenen dies jedoch in Kauf nehmen. Die Veröffentlichung der vorliegenden Chats ist somit im Interesse der Allgemeinheit gerechtfertigt, Ansprüche nach § 77 UrhG gegenüber Medien bestehen nicht.

 

Diese Sichtweise steht auch im Einklang mit der ständigen Jud des EGMR, wonach Nach- richten und Ideen über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse besonders weitrei- chenden Schutz nach Art 10 EMRK genießen17 und der Presse eine vitale Rolle als „Pu- blic Watchdog“ zukomme.18 Hintergrund für die Sichtweise des EGMR ist, dass es in einer demokratischen Gesellschaft das grundlegende Bedürfnis der Bürger_innen nach umfangreichen Informationen zum politischen Geschehen gibt. Bei den folgenden The- men sind dem EGMR zufolge zentrale öffentliche Informationsinteressen betroffen: Be- richte im Kontext der staatlichen Gewaltenteilung, von Polizeibrutalität, über das Funk- tionieren des Justizsystems, zu Fragen über die Entschädigung von Holocaustopfern, über Beziehungen zwischen dem Militär und der Politik.19 Die Veröffentlichungen von Chatverläufen, die aus politisch-moralischen bzw rechtsstaatlichen Überlegungen fragwürdig sind bzw in denen die WKStA von einem Ex-Justizminister in Frage gestellt wird, sind meiner Auffassung nach klassische Bsp für Angelegenheiten von öffentlichem Interesse.20 Auch der raue Umgangston zwischen Regierungsmitgliedern ist für die Öffentlichkeit bedeutsam, insb wenn die Regierungsmitglieder nach außen die harmonische Zusammenarbeit hervorheben.

 

3. Fazit

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Medien Chatnachrichten von Politiker_innen immer dann veröffentlichen dürfen, wenn es einen entsprechenden Konnex zu Themen von öffentlichem Interesse gibt. In den zuvor erwähnten Bsp lag dieser Konnex vor. Er ist meiner Ansicht nach auch bei den Chats zur sogenannten Inseratenaffäre rund um Bundeskanzler aD Sebastian Kurz gegeben, in der es um gefälschte Meinungsumfragen, gekaufte Medienberichterstattung und aus strafrechtlicher Perspektive um Veruntreuung, Bestechung und Bestechlichkeit geht. Zahlreiche in die Affäre verwickelte Personen sind mittlerweile zurückgetreten.

Eine andere Frage ist es freilich, inwieweit die Staatsanwaltschaften im Zuge ihrer Ermittlungen Chatnachrichten verwenden sollen dürfen. Die Inseratenaffäre kam deshalb ins Rollen, weil die WKStA über 330.000 Chatnachrichten des ehemaligen Generalse- kretärs des BMF ausgewertet hatte, gegen den wegen anderer Verfehlungen strafrechtlich ermittelt wird (es handelt sich also um einen Zufallsfund)21. Die Auslesung eines Mobiltelefons bzw dessen Backups auf einer Festplatte oder in einer Cloud kann zu sehr umfassendem Datenmaterial führen. Vor diesem Hintergrund gibt es durchaus Forde- rungen in der Lehre, die Position von Beschuldigten im strafrechtlichen Ermittlungsver- fahren zu stärken und daher die Auswertung von Chats in der StPO strenger zu regle- mentieren.22

Im Zusammenhang mit den jüngsten politischen Skandalen betonten verschiedene ÖVP- Politiker_innen, dass Chats von Politiker_innen privat seien und daher öffentlich nicht diskutiert werden sollten.23 Aus medienethischer und -rechtlicher Sicht greift diese Ver- teidigungslinie in dieser Absolutheit zu kurz. Die Nachrichten wurden zwar in einer ver- traulichen Atmosphäre ausgetauscht. Sofern darin Themen von öffentlichem Interesse vorkommen, sind sie jedoch nicht der geschützten Privatsphäre zuzurechnen und dürfen daher von den Medien veröffentlicht werden. De lege ferenda stünde ein Verwertungsverbot von Chatnachrichten für Medien der in Art 10 EMRK verankerten Pressefreiheit diametral entgegen.

  • 1. Vgl zum Presserat Bauer/Koller/Warzilek, Der Presserat als medienethische Kontrollinstanz, MR 2013, 6 ff; Gottwald/ Kaltenbrunne
  • 2. Presserat, 11.3.2021, 2021/127.
  • 3. Presserat, 6.7.2021, 2021/308.
  • 4. Der Betroffene ist schließlich aufgrund weiterer Chatveröffentlichungen von seinem Amt als Verfassungsrichter zu- rückgetreten
  • 5. S dazu auch Presserat 7.2.2012, 2011/44 B; 29.9.2015, 2015/148, 31.1.2017, 2017/6; 2.5.2018, 2017/298; 19.10.2018, 2018/195 und
  • 6. Parlamentarischer Untersuchungsausschuss „betreffend mutmaßlicher Käuflichkeit der türkis-blauen Regierung“ www.parlament.gv.a
  • 7. Abrufbar unter https://presserat.at/show_content.php?hid=2 (19.1.2022).
  • 8. Warzilek, Anm zu Presserat 7.2.2012, 2011/44, MR 2012, 69 (71) mwH.
  • 9. Gerhartl hält fest, dass derartige Kommunikationsformen „als Substitut für das persönliche Gespräch“ angesehen werden könne
  • 10. Urheberrechtsgesetz BGBl 1936/111 idF BGBl I 2009/75.
  • 11. OGH 20.12.2018, 6 Ob 131/18k, MR 2019, 190 (zust Walter) – neben Chatprotokollen ging es hier auch um E-Mails. Auf die Schriftun
  • 12. OGH20.12.2018,6Ob131/18k,MR2019,190mitHinweisaufRIS-JustizRS0126874;21.12.2015,6Ob163/15m, MR 2016, 34 (Walter).
  • 13. Thiele, MR 2011, 266; vgl auch Stollwerck/Wegner in Götting/Schertz/Seitz, Handbuch des Persönlichkeitsschutzes (2008)2 571 un
  • 14. Vgl RIS-Justiz RS0126873.
  • 15. Wobei sich der Vertraulichkeitsschutz nach § 77 UrhG dem OGH zufolge interessanterweise auch auf geschäftliche Unterlagen bezie
  • 16. Wanckel in Götting/Schertz/Seitz, Handbuch 360.
  • 17. ZB EGMR 4.11.2014, 30162/10, MR-Int 2014, 151 f; vgl ferner Stollwerk in Götting/Schertz/Seitz, Handbuch 540.
  • 18. EGMR, Articles 2, 3 and 10 – The safety of journalists (2013) 6; EGMR 26.11.1991, 13585/88, Observer und Guardian gegen Vereinig
  • 19. Zit nach EGMR, Guide on Article 10 of the Convention of Human Rights – Freedom of Expression (2021) 63 f.
  • 20. Die Themen der Chats haben also eine besondere demokratiepolitische Tragweite; Burkhardt in Wenzel, Das Recht der Wort- und Bild
  • 21. Vgl OGH als KOG 26.11.2013, 16 Ok 5/13, ÖBl 2014, 77 (Krutzler); Feldner/Thalhammer, Hausdurchsuchungen durch die BWB und die B
  • 22. Burgstaller im Interview mit Kommenda, „VfGH mitverantwortlich für das Schlamassel“, Die Presse 5.7.2021; Reindl-Krauskopf im I
  • 23. APA, Scharfe Auseinandersetzung über Chat-Veröffentlichung, sn.at 5.6.2021, www.sn.at/104747044 (19.1.2022); NN, Hörl zu Kurz
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Univ.-Lekt. Dr. Alexander Warzilek ist Geschäftsführer des Österreichischen Presserats; alexander.warzilek@presserat.at