Unmittelbar nach dem erfolgreichen Misstrauensantrag gegen die BReg Kurz im Mai 20191 reagierte dieser mit den Worten: „Heute hat das Parlament entschieden, aber am Ende des Tages [...] entscheidet in einer Demokratie das Volk.“2 Diese Aussage irritiert, suggeriert sie doch eine Diskrepanz zwischen gewähltem Parlament und wahlberechtigter Bevölkerung. 1. Ideal einer parlamentarischen Demokratie Für Kelsen liegt die Stärke des parlamentarischen Verfahrens in seiner „dialektisch-kontradiktorischen, auf Rede und Gegenrede, Argument und Gegenargument abgestellten Technik [...]“3. Ziel des Verfahrens sei es, verschiedenen Interessen zur Öffentlichkeit zu verhelfen, „dass aus der Gegenüberstellung von Thesis und Antithesis der politischen Interessen [...] eine Synthesis zustande komme.“4 So könne verhindert werden, dass der Staatswille von einer einseitigen Interessenlage dominiert werde.5 Kelsen verkannte aber nicht, dass ein bedeutsamer Teil der Gesetzgebungsarbeit durch die Regierung erfolgt.6 2. Gesetzgebungspraxis in Österreich Am Beginn der meisten Gesetzgebungsverfahren steht eine RV,7 welcher ein von der BReg in Auftrag gegebener MEntw und die Begutachtung desselben vorausgehen. Das ist darauf zurückzuführen, dass sich die fachliche, insb legistische Expertise in den BM findet.8 Das Begutachtungsverfahren bietet der interessierten Öffentlichkeit die Möglichkeit, Stellungnahmen zum Entwurf abzugeben.9 Dafür ist ausreichend Begutachtungszeit notwendig. Auch die Abg benötigen diese, um sich fundiert mit dem jeweiligen Thema aus- 1 236/UEA BlgNR 26. GP 1. 2 Reuters, Österreichs Kanzler Kurz durch Misstrauensvotum gestürzt, https://de.reuters.com/article/sterreichmisstrauensvotum-idDEKCN1SX1EM (7.10.2019). 3 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (2018/1929)2 80. 4 Kelsen, Demokratie 81. 5 Kelsen, Demokratie 87. 6 Kelsen, Demokratie 50. 7 Mayer/Muzak, B-VG5 (2015) Art 41 B-VG I. 8 Bußjäger in Kneihs/Lienbacher, Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht3 (2004) Art 41 B-VG Rz 18. 9 Parlament, Begutachtungsverfahren und Stellungnahmen, www.parlament.gv.at/PAKT/MESN/ (7.10.2019). Veröffentlichte Stellungnahmen können inzwischen auch mit einem Daumen-Hoch-Emoji auf der Homepage des Parlamerk.würdig 461 © Verlag Österreich 2019 juridikum 4/2019 einandersetzen zu können. Dies dient dem Ideal eines öffentlichen Diskurses, der im besten Fall inner- und außerhalb des Parlaments in wechselseitiger Beeinflussung stattfindet. Die Rechtsgrundlagen für die Begutachtung, bei denen es sich mangels Sanktionsfolgen um keine Verpflichtung, sondern Soft Law handelt, sind stark aufgesplittert; so ist zB im Arbeiterkammergesetz oder im Wirtschaftskammergesetz die „Einhaltung einer angemessenen Frist zur Begutachtung“ vorgesehen.10 Der Verfassungsdienst11 und das BKA12 empfehlen hierfür sechs Wochen. In der 26. Legislaturperiode des NR wurde in weniger als 20 % der Begutachtungsverfahren die empfohlene Frist eingehalten.13 Das könnte ua damit zusammenhängen, dass ein Unterschreiten dieser Frist oder das gänzliche Ausbleiben eines Begutachtungsverfahrens das verfassungsmäßige Zustandekommen eines Gesetzes nicht verhindern.14 Art 41 Abs 1 B-VG sieht RV auf gleicher Ebene mit den Initiativanträgen der Abg iSd § 26 GOG-NR. Die Anträge der Abg werden in der Aufzählung der Initiativrechte sogar an erster Stelle genannt. Die wenigen erfolgreichen Initiativanträge gehen meist auf Abg der Regierungsparteien zurück.15 Bei Initiativanträgen muss keine Begutachtung stattfinden.16 Daher ziehen es Regierungsparteien regelmäßig vor, anstatt RV einzubringen, über Abg ihrer Partei Initiativanträge zu stellen.17 Es entsteht der Eindruck, dass politische Agenden möglichst am Parlament vorbei und ohne öffentlichen Diskurs durchgesetzt werden sollen. Das Paradoxe dabei ist, dass es Parlamentarier_innen (der Mehrheitsparteien) sind, die diese Praxis ermöglichen. Um ein Begutachtungsverfahren zu umgehen und die Zeit zwischen Bekanntwerden eines Gesetzesentwurfs und der Abstimmung darüber zu verkürzen, wurde auch wiederholt das Instrument des Abänderungsantrags eingesetzt.18 Abg der Regierungsfraktionen bringen einen inhaltlich unumstrittenen Antrag ein, dieser wird im Ausschuss behandelt. Erst kurz vor der Abstimmung wird durch eine Abänderung des Antrags politisch Umstrittenes hinzugefügt.19 ments unterstützt werden. Vgl dazu Parlament, Erweitertes Begutachtungsverfahren, www.parlament.gv.at/PERK/ BET/MESN/ (7.10.2019). 10 § 93 Abs 2 Arbeiterkammergesetz 1992, BGBl 1991/626 idF BGBl I 2018/32; § 10 Abs 1 Wirtschaftskammergesetz 1998, BGBl I 1998/103 idF BGBl I 2018/108. 11 Verfassungsdienst, Rundschreiben des Verfassungsdienstes betreffend Festsetzung angemessener Begutachtungsfristen, GZ BKA-600.614/0002-V/2/2008. 12 WFA-Grundsatz-Verordnung (WFA-GV), BGBl II 2012/489 idF BGBl II 2015/67. 13 Ennser-Jedenastik, Zu kurze Begutachtungsfristen bei Türkis-Blau – wie schon bei Rot-Schwarz, derstandard.at 7.11.2018, www.derstandard.at/story/2000090732541 (7.10.2019). 14 Bußjäger in Kneihs/Lienbacher, Rill-Schäffer-Kommentar3 Art 41 B-VG Rz 23. 15 Bußjäger in Kneihs/Lienbacher, Rill-Schäffer-Kommentar3 Art 41 B-VG Rz 8. 16 Schick in Korinek/Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht2 (1999) Art 41/1 B-VG. 17 Berka, Verfassungsrecht7 (2018) Rz 609. 18 § 53 Abs 3 Geschäftsordnungsgesetz 1975 (GOG-NR), BGBl 1975/410 idF BGBl I 2016/41. 19 Bspw wurde im Fall des Pensionsanpassungsgesetzes 2019 knapp vor der NR-Sitzung ein Abänderungsantrag, der die Sozialversicherungsreform betraf, von Mandatar_innen der Regierungsfraktionen eingebracht (PAG 2019, BGBl I 2018/99). Nach einem ähnlichen Muster wurde Anfang Juli 2018 eine Ausgabenbremse für die Sozialversicherungsträger in das Erwachsenenschutzgesetz inkludiert (ErwSchAG, BGBl I 2018/59).462 Blaßnig / Reiss, Parlamentarische Demokratien im Rückbau © Verlag Österreich 2019 3. Machtverschiebung von Legislative zu Exekutive Die eingangs zitierte Abwertung des Parlamentarismus deckt sich also mit der Gesetzgebungspraxis der vergangenen Jahre. Eine Regierungsmehrheit, die das parlamentarische Verfahren primär als bloße Formsache zu betrachten scheint, ist in Ö nicht unbekannt.20 Auf eine Zunahme dieser Tendenz wurde in Folge der Finanzkrise 2008 aufmerksam gemacht.21 In der vergangenen Legislaturperiode hat die Kritik an dieser Praxis noch einmal zugenommen.22 Neben der Gesetzgebungsarbeit irritierte das wiederholte Fernbleiben des BK und weiterer Mitglieder der BReg bei wichtigen NR-Sitzungen.23 Die Machtverschiebung von Legislative zu Exekutive muss über Ö hinaus und vor ihrem theoretischen Hintergrund analysiert werden. Oberndorfer argumentiert anhand der Austeritätspolitik der EU sehr ausführlich, dass in der Hegemoniekrise des Neoliberalismus verlorene Zustimmung durch autoritäre Praktiken kompensiert wird.24 Man erkennt Hayeks technokratisch-autoritäre Ideen eines Liberalismus, der von demokratischen Strukturen nicht begrenzt werden soll.25 Diese Ideologie zeigt Wirkung. In den letzten zehn Jahren ist eine steigende Befürwortung der Idee einer starken Führungspersönlichkeit, die sich nicht um Wahlen und Parlament kümmern muss, zu verzeichnen.26 Die Frage nach dem Zustand parlamentarischer Demokratien stellt sich nicht rein auf institutioneller Ebene, sondern muss als eine von grundlegender gesellschaftspolitischer Bedeutung verstanden werden. Maximilian Blaßnig studiert Rechtswissenschaften und Politikwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet als Studienassistent am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht; maximilian.blassnig@univie.ac.at Antonia Reiss, BA studiert Rechtswissenschaften an der Universität Wien und arbeitet als Studienassistentin am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte; antonia.reiss@univie.ac.at 20 Helms/Wineroither, Nationalrat, Bundesregierung und Bundespräsident: Die gouvernementale Arena im internationalen Vergleich, in Helms/Wineroither (Hrsg), Die österreichische Demokratie im Vergleich (2017) 191 (211). 21 ZB Korinek, Das Parlament muss wieder selbst entscheiden, diepresse.com 3.6.2012, https://diepresse.com/home/ recht/rechtallgemein/762852 (7.10.2019). 22 ZB ÖRAK, Tätigkeitsbericht 2018 (2018) 11, der das vermehrte Ausbleiben von Begutachtungen im ersten Halbjahr 2018 kritisiert; APA, Kritik an Mini-Begutachtungsfrist für Staatsholding-Reform, www.sn.at/ 59851222 (14.8.2019). 23 Horaczek/Redl, Tiefe Hütte, Hohes Haus, Falter 2018/28, 12. 24 Oberndorfer, Krisenbearbeitung in der Europäischen Union. Economic Governance und Fiskalpakt – Elemente einer autoritären Wende? Kritische Justiz 2012, 26 (27). 25 Hayek, Die Verfassung der Freiheit (1960/1971) 133. 26 Rathkolb, Autoritäres Potenzial und demokratische Werte in Österreich 1978 – 2004 – 2017, juridikum 2018/1, 80 (80).463 © Verlag Österreich 2019