1. Allgemeines Thema des 2018 erschienenen Sammelbands Marxismus als Sozialwissenschaft. Rechtsund Staatsverständnisse im Austromarxismus ist die im Vgl zum Austrofaschismus, der mit dem Ständestaat 1934 – 1938 seinen Höhepunkt erreichte, im Allgemeinen weitaus weniger bekannte Denkschule des Austromarxismus. Der insgesamt 13 Beiträge (und eine Einleitung) umfassende Band ist in die Abschnitte Nationalstaat – Rechtsstaat – Sozialstaat – Demokratie im Austromarxismus (4 Beiträge), Der Austromarxismus – zeitgenössische Debatten (6 Beiträge) und Zur Aktualität des Austromarxismus (3 Beiträge) unterteilt. Neben den verschiedenen zum Teil explizit interdisziplinär forschenden Wissenschafter_innen (insb zwischen den Gebieten der Rechts-, der Geschichts- und der Politikwissenschaften) sind vor allem mit Folke große Deters und Thilo Scholle Autoren vertreten, die sich über ihre wissenschaftliche Tätigkeit hinaus auch politisch engagieren. Bei der Lektüre des Sammelbands wird ersichtlich, dass in diesem (von einem gewissen Spannungsverhältnis gekennzeichneten) Umstand durchaus eine Parallele zu den vorgestellten Vertretern des Austromarxismus besteht.1 Dies zeigte sich speziell bei den Personen Karl Renner, Max Adler und Otto Bauer, deren sozialwissenschaftlich und philosophisch geschultes Denken die Politik der Sozialdemokratie in der ersten Hälfte des 20. Jhd wesentlich geprägt hat. 2. Inhaltliches In der Einleitung von Thilo Scholle wird auch für mit der Thematik kaum vertraute Leser_innen gut verständlich skizziert, was genau mit dem Begriff Austromarxismus bezeichnet werden soll. Obwohl unterschiedliche Erklärungssansätze vorgestellt werden, ist die Präferenz erkennbar, den „Austromarxismus als Diskursgemeinschaft” zu be- 1 Im Band werden bloß männliche Vertreter vorgestellt. Als eine der wenigen Austormarxistinnen nennt Horst Klein die Ökonomin Tatiana Grigorovici.446 Stoll, Marxismus als Sozialwissenschaft © Verlag Österreich 2019 schreiben (10).2 Scholle schreibt diesbezüglich: „So lässt sich das austromarxistische Denken am besten als Diskursgemeinschaft verstehen: Die beteiligten Akteure lasen, reflektierten und publizierten unter enger Bezugnahme – und auch Abrenzung – zueinander, und entwickelten so eine greifbare ‚austromarxistische Diskursgemeinschaft’” (13). Als wichtigste Mitglieder in diesem „Personenensemble“ nannte bereits Otto Bauer, der als Begründer des Austromarxismus gilt, seine damaligen Zeitgenossen Max Adler, Karl Renner, Rudolf Hilferding, Gustav Eckstein und Friedrich Adler (9–10). Alle Beiträge des Sammelbands verbindet iwS die Frage, inwieweit es der austromarxistischen Diskursgemeinschaft gelang (oder eben nicht gelang) einen – wie Friedrich Adler es formulierte – Dritten Weg „zwischen autoritärem Bolschewismus und reformischer Sozialdemokratie“ einzuschlagen (25). Neben den postiven Aspekten einer solchen abwägenden österr (Denk-)Richtung des Marxismus werden selbstverständlich auch viele Kritikpunkte thematisiert. Als Bsp einer sehr heftigen zeitgenössischen Kritik behandelt Andreas Fisahn in seinem Beitrag etwa die – insb auch für Jurist_innen interessanten – staatstheoretischen Differenzen zwischen Max Adler und Hans Kelsen.3 Neben dieser und weiteren gelungenen staats- und verfassungstheoretischen Abhandlungen sind auch Beiträ- ge vorhanden, bei denen auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinende Forschungsfragen behandelt werden. Bspw werden so Wechselbeziehungen des Austromarxismus mit anderen im Wien des frühen 20. Jhd bedeutsamen Geisteströmungen vorgestellt: Während Günther Sander hier Bezug auf die Wiener Moderne nimmt, untersucht Eveline List mögliche Berührungspunkte zwischen dem austromarxistischen Denken und der sich damals schnell verbreitenden Theorie der Psychoanalyse. Dass eine Beschäftigung mit Austromarxismus nicht nur bei einem (rechts-)historischen Interesse lohnenswert ist, liegt darin begründet dass er – wie im Band aufgezeigt wird – auch ein nützliches Reflexionsintrument für die gegenwärtigen Sozialwissenschaften darstellt. Anzumerken ist dabei, dass auf diesen Gegenwartsbezug zwar vor allem im letzten Abschnitt (Zur Aktualität des Austromarxismus) des Bands eingegangen wird, allerdings fast durchwegs seitens der Autor_innen (zumindest im jeweiligen Resümee) Bezüge zu heutigen Debatten und Theorien hergestellt werden und beim Lesen häufig diesbezügliche Querverbindungen erkennbar werden. Hervorzuheben ist dabei der nicht nur thematisch spannende, sondern auch stilistisch sehr gelungene Beitrag von Lutz Musner, der Otto Bauers Nachbetrachtungen im Kontext aktueller Faschismusforschung behandelt. Gerade in Bezug auf Faschismustheorien werden austromarxistische Ansätze im Band wiederholt als vielversprechendes Reflexions- und Beschäftigungsfeld vorgestellt. Gerhard Botz hebt dabei etwa die „theoretische Stringenz und Realitätsbezogenheit der Faschismustheorie“ von Otto Bauer und Karl Renner hervor, die den aufkeimenden Faschismus als scharfsinnige Zeitzeugen miterlebten und in der Lage waren, diesen auch 2 Die im Text jeweils in Klammer genannten Seitenzahlen beziehen sich auf den rezensierten Sammelband. 3 Vgl zum Disput zwischen Kelsen und Adler auch die berühmte Debatte zwischen Kelsen und Eugen Ehrlich.merk.würdig 447 © Verlag Österreich 2019 juridikum 4/2019 in seiner verfassungs- bzw demokratietheoretischen Dimension zu erfassen (172). Am Ende des Bands liefert Kolja Möller einen näheren Einblick in Otto Bauers Theorie der demokratischen Republik und beschreibt deren methodisches Potential im Hinblick auf den „Verfassungswandel im Zuge der Globalisierung“ sowie in Bezug auf die neueren Debatten um den durch Colin Crouch geprägten Begriff der sogenannten „Postdemokratie“ (244). 3. Fazit Ein Ziel der Reihe Staatsverständnisse besteht darin, nicht nur Wissenschafter_innen anzusprechen, sondern auch nützliche Einführungs- und Orientierungswerke für „Studierende der Geistes- und Sozialwissenschaften“ zu schaffen (6). Dieses Ziel wurde mE in Bezug auf den hier rezensierten Band erreicht, da die Einleitung trotz der Komplexität des Themas einen leichten Zugang ermöglicht und die – im Vgl zu anderen Sammelbänden – tendenziell kurz gehaltenen Beiträge mehrheitlich von einem pointierten und klar verständlichen Stil gekennzeichnet sind. Zudem gelingt es bei den Ausführungen stets eine kritische Distanz zu bewahren, was zwar von einem wissenschaftlichen Werk erwartet werden darf, im Fall einer solchen Thematik, die traditionell mit dem Stigma von Ideologiegefahr behaftet ist, dennoch positiv hervorgehoben werden sollte. Hinsichtlich der durchaus vorhandenen thematischen Spannweite wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Rolle von Frauen im Kontext der austromarxistischen Theoriebildung eine größere Aufmerksamkeit geschenkt worden wäre, denn selbst wenn – wie durch die Aufzählung von Otto Bauer impliziert wird – aus zeitgenössicher Sicht ausschließlich Männer zum engeren Kreis dieser Denkschule zählten, hätte man dies in einem der Beiträge noch näher ausführen können. Abgesehen davon und auch wenn – wie für einen Sammelband üblich – nach der Lektüre einzelne Beiträge selbstverständlich etwas stärker in Erinnerung bleiben als andere, liegt mit Marxismus als Sozialwissenschaft insgesamt betrachtet ein kurzweiliger und anregender Sammelband vor, der aufgrund seines Umfangs vor allem auch Jurist_innen mit eingeschränkten zeitlichen Ressourcen empfohlen werden kann, um diese vglw meist weniger vertraute Denkrichtung kennenzulernen oder um bestehendes Wissen zu vertiefen. MMag. Christoph Stoll hat Rechtswissenschaften und Vergleichende Literaturwissenschaft studiert, ist Doktorand am Institut für Römisches Recht und Rechtsgeschichte an der Universität Innsbruck und Redaktionsmitglied des juridikums; christoph.stoll@uibk.ac.at