1. Einleitung Im Rahmen der Fridays-For-Future-Bewegung (FFF) gehen seit dem Frühjahr 2019 jeden Freitag weltweit – auch in Ö – Schüler_innen während der Unterrichtzeit auf die Straßen und fordern mittels eines sog Schulstreiks die Politik auf, Maßnahmen zur Erreichung des 1,5 °C-Ziels gem Art 2 Abs 1 lit a des Pariser Klimaabkommens zu setzen. Weil es im österr Schulwesen nicht erlaubt ist, an Demonstrationen während der Unterrichtszeit teilzunehmen, drohen den Schüler_innen Sanktionen. Damit erfüllt der FFF-Protest eines der wesentlichen Merkmale des zivilen Ungehorsams,1 nämlich die vorsätzliche Normverletzung aus politisch-moralischen Beweggründen. Konkret handelt es sich um eine Form des mittelbaren zivilen Ungehorsams2, weil die verletzte Norm (§ 9 SchPflG3 bzw § 45 SchUG4) und der Protestgegenstand (mangelnde Umsetzung des Klimaabkommens) nicht ident sind. Da die Schüler_innen mit der Teilnahme an den FFF-Protesten ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gem Art 11 EMRK ausüben, ist zu prüfen, ob drohende Sanktionen aufgrund dieses Gesetzesverstoßes grundrechtlich problematisch sind. 2. Rechtliche Einordnung Das Fernbleiben vom Schulunterricht ist in Ö nur gestattet, wenn eine gerechtfertigte Verhinderung vorliegt. Die Rechtfertigungsgründe werden in § 9 Abs 3 SchPflG bzw § 45 Abs 2 SchUG taxativ aufgezählt. Eine Demonstrationsteilnahme stellt keine gerechtfertigte Verhinderung iSd SchPflG bzw SchUG dar. 1 Ziviler Ungehorsam ist „eine öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte, aber politische gesetzeswidrige Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll“, Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, in Braune (Hrsg), Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy (2017) 109. 2 Vgl Dreier,Widerstandsrecht und Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, in Glotz (Hrsg), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat (2015) 61. 3 Schulpflichtgesetz BGBl I 1985/76. 4 Schulunterrichtsgesetz BGBl I 1986/472.456 Kreil, Fridays For Future: Schulstreik für den Klimaschutz © Verlag Österreich 2019 Grds kann der_die Klassenvorstand_vorständin für einzelne Stunden bis zu einem Tag, darüber hinaus der_die Schulleiter_in das Fernbleiben aus wichtigen Gründen erlauben (§ 9 Abs 6 SchPflG bzw § 45 Abs 4 SchUG). Um länger als eine Woche dem Schulunterricht fernbleiben zu können, müssen schulpflichtige Schüler_innen um Genehmigung bei der zuständigen Bildungsdirektion ansuchen (§ 9 Abs 6 SchPflG). Prompt nach dem ersten weltweiten Klimastreik betonte das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) aber, dass die Teilnahme an den FFF-Demonstrationen keine gerechtfertigte Verhinderung iSd SchPflG bzw SchUG darstelle. Mit einem Erlass ersuchte das BMBWF die Bildungsdirektionen, die Schulen dementsprechend zu informieren und wies die Bildungsdirektionen an, einen einheitlichen Vollzug zu gewährleisten.5 Ab einer bestimmten Anzahl ungerechtfertigter Fehlstunden können Sanktionen verhängt werden. Schulpflichtigen Kindern bzw deren Eltern drohen bei einem ungerechtfertigten Fernbleiben an mehr als drei (nicht) aufeinanderfolgenden Schultagen der neunjährigen allg Schulpflicht Verwaltungsstrafen iHv EUR 110 bis 440 (§ 24 Abs 4 SchPflG). Schü- ler_innen einer mittleren oder höheren Schule, die die neunjährige allg Schulpflicht bereits erfüllt haben, werden von der Schule abgemeldet, wenn sie länger als fünf (nicht) zusammenhängende Schultage oder 30 Unterrichtsstunden im Unterrichtsjahr dem Unterricht fernbleiben (§ 45 Abs 5 iVm § 33 Abs 2 lit c SchUG). Schüler_innen, die FFF-Demonstrationen regelmäßig besuchen, drohen daher disziplinäre Folgen (Schulabmeldung) bzw sogar Verwaltungsstrafen. Zum Ende des Schuljahres 2018/19 waren den Initiator_innen von FFF keine Fälle bekannt, in denen Strafen aufgrund der Teilnahme an den Demonstrationen verhängt wurden.6 Allerdings fällt die Teilnahme an den wöchentlichen Zusammenkünften in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit (Art 11 EMRK, Art 12 StGG)7, weil die FFF-Proteste in der Absicht veranstaltet werden, „die Anwesenden zu einem gemeinsamen Wirken zu bringen, sodass eine gewisse Assoziation der Zusammengekommenen entsteht“8. Das gemeinsame Wirken der Demonstrierenden besteht darin, mittels regelmäßiger Schulstreiks die Wichtigkeit des Klimaschutzes sichtbar zu machen und Druck auf die Politik auszuüben. Es stellt sich die Frage, ob eine drohende Sanktion nach dem SchPflG bzw SchUG einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit begründet. Die Schwierigkeit diese Frage zu beantworten liegt darin, dass verwaltungsstrafrechtliche bzw disziplinäre Folgen keine Beeinträchtigung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit intendieren, sondern die regelmä- ßige Teilnahme am Schulunterricht gewährleisten sollen. Ob die Intentionalität konstitu- 5 Vgl Erl des BMBWF vom 19.3.2019, BMBWF-10.717/0009-III/3/2019, 2. 6 Vgl Orf.at, „Fridays for Future“: Bisher keine Geldstrafen verhängt, www.orf.at/stories/3130690/ (18.7.2019). 7 Art 11 EMRK geht als lex specialis im konkreten Fall der Prüfung von Art 10 EMRK als lex generalis vor, vgl EGMR 26.4.1991, 11800/85, Ezelin/Frankreich Rn 35. 8 VfSlg 15109/1998.merk.würdig 457 © Verlag Österreich 2019 juridikum 4/2019 tive Voraussetzung für das Vorliegen eines Eingriffs in die Versammlungsfreiheit ist, wird vom VfGH nicht eindeutig beantwortet. Insgesamt ist in der Grundrechtsjud aber eine Abschwächung des Intentionalitäts-Erfordernisses erkennbar. Einzig bei Eingriffen in das Recht auf persönliche Freiheit (Art 5 EMRK, Art 1 Abs 1 PersFrG) fordert der VfGH stets die Intentionalität als konstitutive Voraussetzung für das Vorliegen eines Eingriffs.9 Im Rahmen der Meinungsfreiheit (Art 10 EMRK) hat er VfGH in neuerer Jud das Vorliegen eines Eingriffs bejaht, wenn der behördliche Akt zwar nicht auf eine Beschränkung der Meinungsfreiheit gerichtet war, der Eingriff aber eine „Begleiterscheinung“ einer auf ein anderes Rechtsgut abzielenden Maßnahme ist.10 Aufgrund des ähnlichen Schutzbereichs von Art 10 EMRK und Art 11 EMRK11 ist mE eine analoge Anwendung dieser Rechtsansicht für die Versammlungsfreiheit sinnhaft. Außerdem entspricht diese Ansicht dem breiten Eingriffsverständnis des EGMR iZm Art 11 EMRK, wonach nicht nur intentionale Eingriffe, sondern auch Maßnahmen, die eine abschreckende (chilling)12 bzw beeinträchtigende (affecting)13 Wirkung haben, einen Grundrechtseingriff begründen können. Dementsprechend wertet der EGMR bspw Sanktionen, die im Zusammenhang mit einer Demonstrationsteilnahme ergehen, als Eingriffe in Art 11 EMRK.14 IZm Verwaltungsübertretungen hat der VfGH mehrmals erkannt, dass ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit nicht nur dann vorliegt, wenn die Ausübung des Grundrechts verunmöglicht, sondern auch dann, wenn die grundrechtlich gestattete Handlung „zum Anlass der Verhängung einer Strafsanktion“15 genommen wird. Ein Verhalten, das grds den Tatbestand einer Verwaltungsübertretung erfüllt, qualifiziert der VfGH gem § 6 VStG16 dann als gerechtfertigt, wenn dieses Verhalten „unbedingt notwendig ist, um die Versammlung in der beabsichtigten Weise durchzuführen“17. Sowohl EGMR als auch VfGH wenden in neuerer Jud zu Art 11 EMRK ein breites Eingriffsverständnis an. Demnach kann ein Eingriff auch dann vorliegen, wenn die Aus- übung des Grundrechts grundsätzlich möglich ist, aber die Ausübung des Grundrechts bspw mit einer Sanktion einhergeht. Weil die Strafandrohungen bei ungerechtfertigten Fehlstunden nach dem SchPflG bzw SchUG abschrecken und dazu geeignet sind, Schüler_innen von einer Teilnahme an den FFF-Demonstrationen absehen zu lassen, liegt eine faktische – wenn auch nicht intendierte – Beeinträchtigung der Grundrechtsausübung vor. Im Lichte der neueren Jud des EGMR und VfGH sollte mE diese Beeinträchtigung als Eingriff in Art 11 EMRK gewertet werden. 9 Vgl Pöschl, Die Intentionalität – ihre Bedeutung und Berechtigung in der Grundrechtsjudikatur, ÖJZ 2001, 43 (53). 10 VfGH 20.9.2012, B 1359/11. 11 Näher dazu Meyer-Ladewig/Nettesheim, EMRK4 (2017) Art 11 Rz 1. 12 EGMR 25.9.2012, 11828/08, Gewerkschaft der Polizei in der Slowakei ua/Slowakei Rn 60. 13 EGMR 27.11.2012, 38676/08, Disk ua/Türkei Rn 22. 14 EGMR 26.4.1991, 11800/85, Ezelin/Frankreich Rn 39. 15 VfSlg 8159/1977, 8685/1979, 11.651/1988. 16 Verwaltungsstrafgesetz BGBl I 1991/52. 17 VfSlg 11.866/1988, 11.904/1988, 19528/2011.458 Kreil, Fridays For Future: Schulstreik für den Klimaschutz © Verlag Österreich 2019 Der materielle Gesetzesvorbehalt des Art 11 Abs 2 EMRK sieht vor, dass ein Eingriff nur zulässig ist, wenn er auf einem Gesetz beruht, das dem Schutz eines der taxativ aufgezählten Rechtsgüter (nationale und öffentliche Sicherheit, Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, Schutz der Gesundheit und der Moral oder Schutz der Rechte und Freiheiten anderer) dient. Zusätzlich muss der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt sein, dh der Eingriff muss in einer demokratischen Gesellschaft zur Erreichung eines der legitimen Ziele notwendig sein. Während die allg neunjährige Schulpflicht verfassungsrechtlich verankert (Art 14 Abs 7a B-VG) und das öffentliche Interesse an deren Einhaltung durchaus berechtigt ist, ist der drohende Schulausschluss nach dem SchUG weit schwieriger mit Art 11 EMRK zu vereinbaren. Die Versammlungsfreiheit stellt einen der Grundpfeiler einer demokratischen Gesellschaft dar,18 weshalb die Rechtmäßigkeit eines Eingriffs besonders sorgfältig zu prüfen ist. Sollte eine disziplinäre Sanktion nach dem SchUG einem der legitimen Ziele des Art 11 Abs 2 EMRK dienen, müsste eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zu dem Ergebnis führen, dass eine Schulabmeldung in Anbetracht des hohen Stellenwerts der Versammlungsfreiheit sowie des Klimaschutzes unverhältnismäßig wäre. Zunächst ist das Ausmaß des Schulstreiks mit wenigen Stunden pro Woche äußerst begrenzt, sodass eine relevante Gefährdung des staatlichen Bildungsauftrags nicht erkennbar ist.19 Hinzu kommt, dass die Schüler_innen die Herstellung rechtskonformer Zustände fordern, zu denen sich der Staat iRd Pariser Klimaabkommens selbst verpflichtet hat. Es handelt sich dabei nicht um private Partikularinteressen, sondern um die Forderung nach der Einhaltung von Menschenrechten, immerhin stellt der Klimaschutz selbst ein menschenrechtliches Gebot dar. Die globale Erderwärmung und die damit einhergehende Bedrohung von Wasser- und Nahrungsversorgung gefährdet die Grundlagen der menschlichen Zivilisation und fördert Kriege sowie Migrationsbewegungen. Die Rechtsgüter Leben, Gesundheit und Existenzminimum sind Freiheitsvoraussetzungen, ohne deren grundrechtlich garantierter Schutz politische Freiheiten, wie das Versammlungsrecht, gar nicht existieren können. Der Grundrechtsschutz der Freiheitsvoraussetzungen resultiert aus der EMRK selbst, aber auch aus anderen völkerrechtlichen Verträgen (zB Art 11 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte).20 3. Conclusio Die abschreckende Wirkung einer drohenden Geldstrafe bzw einer Schulabmeldung ist dazu geeignet, einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit zu begründen. Eine grundrecht- 18 EGMR 10.4.2012, 26648/03, Strzelecki/Polen Rn 41. 19 Vgl Ekardt, Fridays for Future: Verfassungsschranken für Sanktionen bei schulischer Abwesenheit, www.sfv.de/pdf/ FFFOWiGEkardt.pdf (31.3.2019) 6. 20 Vgl Ekardt, Fridays for Future 9.merk.würdig 459 © Verlag Österreich 2019 juridikum 4/2019 liche Verhältnismäßigkeitsprüfung müsste zu dem Ergebnis gelangen, dass eine Sanktion aufgrund der Teilnahme an den FFF-Protesten unverhältnismäßig wäre. Die FFF-Bewegung ist damit ein Parade-Bsp mittelbaren zivilen Ungehorsams: Die Schü- ler_innen brechen das Schulrecht, um die Politik zum Klimaschutz zu bewegen und nicht, weil sie für eine Änderung des Schulrechts auftreten. Die Normverletzung hat also nur symbolischen Charakter. Die hier vorgeschlagene Lösung, die Normverletzung grundrechtlich zu rechtfertigen und nicht einfachgesetzlich zu legalisieren (zB durch Erweiterung der Rechtfertigungstatbestände des SchPflG bzw SchUG), stellt sicher, dass der zivile Ungehorsam „zwischen Legitimität und Legalität in der Schwebe bleib[t]“21 und kein „unerwünschte[r] Normalisierungseffekt“22 eintritt. Die FFF-Bewegung hat auch deshalb so viel Aufmerksamkeit erregt, weil die Schüler_innen bereit sind aus politisch-moralischen Beweggründen Recht zu brechen. Die Vermutung liegt nahe, dass ein institutionalisierter, legaler Protest nicht im gleichen Ausmaß zur Sichtbarkeitsmachung der Klimaproblematik beigetragen hätte. Mag.a Marlene Kreil ist Juristin in Wien und studiert derzeit Politikwissenschaften im Masterprogramm der Universität Wien; marlene.kreil@gmx.at
21 Habermas, Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik, in Glotz (Hrsg), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat (2015) 43. 22 Habermas in Glotz 42.