Vom Runden Tisch zum Grundgesetz und zurück

Das Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder ist die erste gesamtdeutsche Bürgerinitiative, die sich aktiv in den Vereinigungsprozess einschaltet und diesen demokratisch gestalten will. Das zentrale Anliegen des Kuratoriums ist es, dass sich das vereinigte Deutschland eine neue Verfassung gibt. Die Basis eines demokratischen Staates ist seine Verfassung; eine Verfassung, zu der bei Konstituierung des Staates alle Bürgerinnen und Bürger befragt werden müssen. Und tatsächlich entsteht durch die Vereinigung von BRD und DDR nicht nur eine nach Osten erweiterte Bundesrepublik, sondern ein neuer politischer Körper mit neuen sozialen und kulturellen Gegebenheiten und Gegensätzen. So muss zu Anfang des vereinigten Deutschlands diese Grundforderung der Demokratie erfüllt werden: es ist eine neue Verfassung zu erarbeiten, über die das gesamte Volk in einem Volksentscheid zu befinden hat. Nur so ist eine demokratische Grundlage für den neuen deutschen Staat zu verwirklichen - durch eine neue Verfassung mit Volksentscheid.

**Gründung des Kuratoriums und Vorgeschichte**
Die Initiative zur Gründung des Kuratoriums ging von der "Arbeitsgemeinschaft Verfassung" des Zentralen Runden Tisches der DDR aus. Diese Arbeitsgemeinschaft hatte vom Runden Tisch im Dezember 1989 den Auftrag erhalten, für die DDR den Entwurf einer neuen Verfassung auszuarbeiten, die nach dem Willen der Mitglieder des Runden Tisches nach den Neuwahlen zur Volkskammer in einem Volksentscheid abgestimmt werden sollte. In dieser ersten Phase bis Ende Januar 1990 gab es noch die Hoffnung, mit einer neuen Verfassung zu einer Demokratisierung der DDR auf eigenständiger Grundlage beitragen zu können. Es ging dabei nicht um die Fort- oder Festschreibung der Zweistaatlichkeit auf alter Grundlage, sondern um die mögliche Herstellung gleichberechtigter Beziehungen im Rahmen einer Konföderation, die für den Prozess des allmählichen Zusammenwachsens offen wäre. Unter dieser Voraussetzung wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik in seiner demokratischen Substanz herangezogen, aber nicht zum alleinigen Maßstab der Diskussion gemacht. Moderne europäische und außereuropäische Verfassungsdokumente, wie die spanische und nicaraguanische Verfassung, gaben hierzu ebenso Anstöße wie die Auseinandersetzung mit der deutschen Verfassung. Der Verfassungsentwurf ist in der Öffentlichkeit in Ost und West intensiv diskutiert worden, in zahlreichen Zeitungsartikeln und Veranstaltungen. 200.000 Unterschriften von DDR-Bürgerinnen und Bürgern, die in sehr kurzer Zeit gesammelt wurden, bezeugen das Engagement der Bevölkerung für eine neue Verfassung. Alle an dieser Arbeitsgemeinschaft beteiligten Parteien und Gruppierungen haben den Entwurf unterschrieben.

Und doch ist der Entwurf in der Volkskammer gescheitert: noch nicht einmal diskutiert werden sollte er im Plenum. Am 26. April 1990 hat die Volkskammer mit einer - allerdings knappen - Mehrheit den Verfassungsentwurf für die DDR abgelehnt. Für die Übergangszeit bis zur Vereinigung galt nun die modifizierte Fassung der alten DDR-Verfassung von 1968/74. Zwar sind die unsäglichsten Bezüge auf die marxistisch-leninistische Parteidiktatur gestrichen und dafür demokratische Ergänzungen vorgenommen worden. Dennoch war diese Art von Grundlage für ein demokratisches Gemeinwesen mehr als zweifelhaft. Das Fehlen einer demokratischen Verfassung aus einem Guss für die ehemalige DDR ist einer der größten Misserfolge seit dem friedlichen Umsturz des alten Regimes gewesen. Das Interesse an einer neuen Verfassung für die DDR, um als gleichberechtigte Partnerin der Bundesrepublik im Vereinigungsprozess gegenüberzutreten, schwand in dem Maße, wie die Möglichkeit und der Zeitpunkt eines Beitritts von neugegründeten DDR-Ländern nach Art. 23 GG deutlichere Konturen annahm und zunehmend die Vereinigungsdiskussion dominierte.

Die Arbeitsgruppe "Neue Verfassung" entschied in dieser Situation im Mai 1990, ihr Projekt "Neue Verfassung für die DDR" aufzugeben zugunsten eines nun gesamtdeutsch angelegten Bemühens um eine neue Verfassung für das vereinigte Deutschland: So entstand die Idee der Gründung einer gesamtdeutschen Bürgerinitiative, des Kuratoriums für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder. Diese Bürgerinitiative sollte sich aus Einzelpersönlichkeiten konstituieren, welche sich sowohl aus Kultur und Wissenschaft als auch aus der Politik rekrutieren sollten. Zudem sollte dieser Initiative bewusst ein überparteilicher Charakter anhaften, denn zum einen war ja der Kreis der InitiatorInnen politisch sehr breit - es waren ja alle Parteien und Gruppierungen am Verfassungsentwurf beteiligt - zum anderen konnte diese Initiative nur Erfolg haben, wenn sie nicht Gefahr lief, von einer Partei vereinnahmt zu werden.

Und schließlich ist die Verfassung als Grundlage eines politischen Gemeinwesens kein Thema, das sich nach dem üblichen Rechts-Links-Schema sortieren lässt. So wurde ein sehr breiter Kreis zur Gründungssitzung am 16. Juni 1990 eingeladen. Im Reichstag wurde folgender Gründungsaufruf verabschiedet: "Das Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder hat sich gebildet, um eine breite öffentliche Verfassungsdiskussion zu fördern, deren Ergebnisse in eine verfassunggebende Versammlung einmünden sollen. Auf der Basis des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, unter Wahrung der in ihm enthaltenen Grundrechte und unter Berücksichtigung des Verfassungsentwurfes des Runden Tisches für die DDR, soll eine gesamtdeutsche Verfassung ausgearbeitet werden. Wir setzen uns dafür ein, dass die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik verbindlich festgeschrieben und die neue gesamtdeutsche Verfassung von den Bürgerinnen und Bürgern durch Volksentscheid angenommen wird."

**Ziele**
Die Ziele des Kuratoriums sind zugleich methodischer und inhaltlicher Natur. Methodisch, indem es einen sehr konkreten Weg vorschlägt, und inhaltlich, indem es die Anforderungen entwickelt, die an eine neue Verfassung zu stellen sind, und diese in Verfassungsgrundsätze bzw. Verfassungsartikel umsetzt.

1. **Der Weg zu einer neuen Verfassung: Der Verfassungsrat**
Das Kuratorium hat seine Forderung nach einer neuen Verfassung auf der Basis des Grundgesetzes und des Verfassungsentwurfes des Runden Tisches konkretisiert und einen "Entwurf für das Gesetz über die Einrichtung und die Aufgaben eines Verfassungsrates und die Verabschiedung einer gesamtdeutschen Verfassung" vorgelegt. Dieses Gesetz ist als Ergänzungsgesetz zu Art. 146 GG gedacht. Im einzelnen sieht dieser Entwurf folgendes Verfahren vor: Nach der Wahl des gesamtdeutschen Parlaments gilt das Grundgesetz für eine Übergangszeit von ca. zwei bis drei Jahren. Der Verfassungsrat hat die Aufgabe, binnen zweier Jahre einen Entwurf für die Verfassung eines föderativen Staates zu erarbeiten. Damit verwirklicht sich die Idee eines Bundes deutscher Länder. Der Verfassungsrat besteht aus insgesamt 160 Personen. Er wird zum größten Teil durch die Landesparlamente bestellt. Jedes Landesparlament entsendet vier Frauen und vier Männer. Zusätzlich werden noch 32 Mitglieder - 16 Frauen und 16 Männer - durch den Bundespräsidenten entsendet. Während der zwei Jahre, in denen der Verfassungsrat arbeitet, haben die Bürgerinnen und Bürger das Recht, bei schriftlich erklärter Unterstützung von mindestens 1000 Wahlberechtigten, Vorschläge abzugeben (besteht die Möglichkeit des Volksbegehrens). Das Ergebnis der Diskussion dieses verfassunggebenden Prozesses (der Entwurf des Verfassungsrates sowie die Alternativen durch Volksbegehren) werden dem Volk schließlich zur Abstimmung vorgelegt. Damit wird der Auftrag nach Art. 146 GG erfüllt, wonach sich "das deutsche Volk in freier Entscheidung" eine neue Verfassung zu geben hat.

2. **Diskussion um Inhalte der neuen Verfassung zu befördern**
Ein wirklich verfassunggebender Prozess des Volkes muss jedoch die ExpertInnenkreise verlassen. Deswegen veranstaltet das Kuratorium große überregionale und öffentliche Treffen, die für die Diskussion der Bürgerinnen und Bürger ein Forum bieten sollen. Mit dem Kongress "Verfassung durch Volksentscheid" am 16. September in Weimar, an dem an die achthundert Menschen aus Ost und West teilnahmen, hat das Kuratorium den Auftakt für die Diskussion der inhaltlichen Anforderungen, die an die neue Verfassung zu stellen sind, gesetzt. In den Arbeitsgruppen Soziale Grundrechte, Demokratie und Föderalismus, Menschen- und BürgerInnenrechte, Ökologie, Frauen, Kultur/Bildungs- und Hochschulwesen, Gewaltfreiheit, Frieden und Abrüstung, Kirche und Staat ist ein erster Problemaufriss geleistet und sind Grundgesetz sowie Verfassungsentwurf auf die entsprechenden Regelungen hin überprüft worden. Das Kuratorium stellt sich vor, dass diese Arbeitsgemeinschaften über einen längeren Zeitraum hinweg aktiv sind und den Verfassungsprozess der staatlichen Organe kontinuierlich begleiten. Dies bietet die Chance, abseits parteipolitischer und taktischer Erwägungen eine an der Sache orientierte Arbeit zu leisten. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppen können dann in die öffentliche Debatte eingebracht werden und so einiges an inhaltlicher Orientierung vermitteln.
Ein nächstes öffentliches Treffen der Arbeitsgruppen findet am 8. Dezember 1990 in Potsdam statt. Hier soll nun über einen Tag hinweg intensiv am Text gearbeitet werden. Praktisch sieht diese Arbeit so aus: Die inhaltlichen Koordinatoren der jeweiligen Arbeitsgruppen bereiten für ihre Bereiche eine kleine Synopse vor, wo sie zu dem jeweiligen Problem die Regelung des Grundgesetzes neben die des Verfassungsentwurfes stellen. Dann muss diskutiert werden, welche Regelung besser ist. Möglicherweise werden auch beide Formulierungen als nicht sachgemäß erkannt, sodass neue zu erarbeiten wären. Die Defizite des Grundgesetzes liegen auf der Hand und das nicht erst seit gestern. Zum ersten zeichnet sich das Grundgesetz durch eine strikte Orientierung auf die Stabilität der Regierung aus. Es fehlen plebiszitäre Elemente und Öffnung gegenüber Bürgerinitiativen und den Mitwirkungsmöglichkeiten von BürgerInnen außerhalb von Wahlen. Im Bereich der sozialen Grundrechte gibt es im Grundgesetz eine Leerstelle. Hier ist lediglich das Gebot der allgemeinen Sozialpflichtigkeit des Eigentums zu finden. Überhaupt nicht beschäftigt sich das Grundgesetz mit der wohl größten Herausforderung der Demokratie: der ökologischen Krise. Wie die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen auf demokratische Weise zu verhindern ist, ist eines unserer entscheidenden Zukunftsprobleme. Eine neue Verfassung muss hierauf Antwort geben. Defizitär ist auch die föderative Ordnung der Bundesrepublik, die in Wirklichkeit kaum noch föderativ ist. Bis auf den Bereich der Kulturhoheit der Länder verbleibt den Ländern in aller Regel nur noch die exekutive Ausgestaltung der von der zentralstaatlichen Ebene beschlossenen Gesetze. In den allermeisten Fällen hat sich die konkurrierende Gesetzgebung als das Einfallstor für den Bund erwiesen, mehr und mehr Bereiche der Gesetzgebung an sich zu ziehen. Auch die derzeitige Finanzverfassung ebenso wie die Definition der Gemeinschaftsaufgaben untergräbt die Autonomie der Länder und stärkt die zentralstaatliche Ebene. Und schließlich verweist auch das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Frage des Ausländerwahlrechts auf den mindestens als restriktiv zu bezeichnenden Charakter des Grundgesetzes.
**Einschätzung der aktuellen politischen Lage**
Der Einigungsvertrag legt sich in der Verfassungsfrage nicht eindeutig fest. In dem Vertrag werden die durch den Beitritt notwendigsten Änderungen am Grundgesetz vorgenommen (Streichung des Art. 23, Änderungen der Präambel, Einbeziehung der DDR-Länder etc.). Die Regierung empfiehlt (sic!) den gesetzgebenden Körperschaften, sich mit der Frage des Art. 146 zu beschäftigen und mögliche Erweiterungen des Grundgesetzes in Hinblick auf Staatszielbestimmungen und Ähnliches zu diskutieren. Völlig offen bleiben jedoch jedwede Modalitäten des verfassunggebenden Prozesses: Es ist weder die Rede von einem Gremium, welches einen Entwurf auszuarbeiten hätte, noch von den genauen Modalitäten eines Volksentscheides. Schon gar nicht findet der Verfassungsentwurf des Runden Tisches eine Erwähnung. Schätzt man die Parteienlandschaft und ihre Positionen zur Verfassungsfrage ein, ist man eher geneigt, ein Tiefdruckgebiet zu registrieren. Auf der einen Seite gibt es zwar den Versuch der SPD, der das Anliegen aufnimmt, verfassungspolitische Ziele zu formulieren sucht und über Mehrheiten in den gesetzgebenden Körperschaften im Bundestag und Bundesrat einen verfassunggebenden Prozess der Änderung und Ergänzung des Grundgesetzes anstrebt. Aber es ist eher schwer zu sagen, wie weit eine solche Unterstützung von SPD-Seite, die nun auch vom FDP-Vorstand mitgetragen wird und auch einzelne Unterstützung von CDU-Seite findet, parteipolitisch wirklich greift. Der Eindruck bleibt, dass es abhängig von der durch die nächsten Wahlen entstehenden parteipolitischen Konstellation ein Kräftemessen und Tauziehen hinter den parlamentarischen Kulissen und jenseits der Öffentlichkeit darum geben wird, welche verfassungspolitischen Zielsetzungen über welche Gremien zu realisieren sind. Nicht ein Volksentscheid über ein geringfügig korrigiertes Grundgesetz oder einer über eine in abgeschotteten Gremien fertig ausgearbeitete Verfassung wäre jedoch der demokratische Anspruch, sondern die Organisation dieses verfassunggebenden Aktes als eine breite öffentliche Diskussion verschiedenster inhaltlicher Alternativen in ihrem jeweiligen Für und Wider. Ein parteipolitisches Kalkül, das alle Entscheidungen über neue - oder auch alte - verfassungspolitische Inhalte und Ziele ausschließlich zum Rechenexempel parlamentarischer Mehrheiten macht, steht dem diametral entgegen. Einem solchen politisch-kalkulatorischen Denken setzen wir unsere eigene Verfassungsbemühung als lagerübergreifende Initiative entgegen und fordern volle Öffentlichkeit ein.
**Weiterführende Literatur:**
Erich Fischer: Zur Verfassungsgeschichte der DDR, in Kritische Justiz, Heft 4, 1990 Ulrich K. Preuß: Auf der Suche nach der Zwei-Gesellschaft. Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches, in: In freier Selbstbestimmung, hrsg. v. Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder, Berlin/Köln/Leipzig 1990, S. 46-52 Wolfgang Templin: Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Heft 5/6, 1990, S. 367-375 Uwe Thaysen: Der Runde Tisch. Oder: Wer war das Volk?, Teil 1 in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 1, 1990, S. 71-100. Teil 2 ebd., Heft 2, 1990, S. 256-308. Das Kuratorium hat in Zusammenarbeit mit der Heinrich Böll-Stiftung zwei Broschüren herausgegeben, die man in der Geschäftsstelle des Kuratoriums im Haus der Demokratie bestellen kann: "In freier Selbstbestimmung" enthält das Grundgesetz, den Verfassungsentwurf, sowie diverse Beiträge zum Thema, u. a. auch die Reden der Gründungsversammlung im Reichstag. "Reden vom Verfassungstag in Weimar" dokumentiert die Reden von Adam Krzeminski, Lea Rosh, Hans-Peter Schneider und Wolfgang Ullmann auf dem Kongress "Verfassung mit Volksentscheid".