Das Übereinkommen von Schengen:

Dass Europa seine Grenzen dicht macht, ist seit längerem bekannt. Einen vorläufigen Höhepunkt des Festungsbaus stellt das Durchführungsabkommen von Schengen dar, das im Juni 1990 von fünf Staaten unterzeichnet wurde und nun Anfang 1991 ratifiziert werden soll. Weitere Verschärfungen im Asylbereich sind zu erwarten. Am 14. Juni 1985 unterzeichneten Frankreich, die BRD und die Beneluxstaaten in der luxemburgischen Kleinstadt Schengen ein "Übereinkommen über den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den Grenzen". Die Präambel war voller wohltuender Absichtserklärungen: Die "immer enger werdende Gemeinschaft der Völker" der EG-Mitgliedstaaten müsse im "freien Verkehr aller Bürger", der Waren und Dienstleistungen über die Binnengrenzen ihren Ausdruck finden. Das Übereinkommen von 1985 hatte noch den Charakter einer Absichtserklärung. Fünf Jahre danach, im Juni 1990, wurde das "Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen" von den Regierungen der fünf Vertragsstaaten unterzeichnet. Seine Bestimmungen werden rechtlich bindend, sobald sie von den nationalen Parlamenten ratifiziert sind. Dies soll Anfang 1991 geschehen. Dann wird sich schnell zeigen, was aus den Absichtserklärungen von 1985 geworden ist: Die Festung Europa, wie die wichtigsten Punkte des Abkommens deutlich zeigen.

Die Tore der Festung

Der Wegfall der Binnenkontrollen wird durch eine massive Verschärfung der Außenkontrollen des Schengener Territoriums (ST) wettgemacht. Als Außengrenzen gelten alle Grenzen mit Drittstaaten sowie Flughäfen mit internationalem Verkehr. Fortan soll jeder Einreisende zumindest einer Ausweiskontrolle unterzogen werden. Als AusländerInnen gelten alle BürgerInnen von Staaten, die nicht der EG angehören. Einem/r AusländerIn darf die Einreise nur gestattet werden, wenn er/sie über die gültigen Reisedokumente verfügt, seinen freien Aufenthaltszweck belegen kann, nicht zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben ist und "keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die nationale Sicherheit oder die internationalen Beziehungen eines der Vertragsstaaten" darstellt. Schon hier beginnt die Willkür: Wer eine solche "Gefahr" darstellt, bestimmen Polizeiorgane. Die Bedenken eines einzigen Vertragsstaates genügen, um eine/n AusländerIn aus dem gesamten ST auszusperren. Entsprechende Rechtsmittel gegen solche Entscheidungen sind nicht vorgesehen.

Visumpflicht

Die Vertragsstaaten erstellen eine gemeinsame Liste der visumpflichtigen Länder. Dies führt zu einer Kumulierung der bisherigen Visumpolitik der einzelnen Vertragsstaaten. Die gemeinsame Liste umfasst bereits 130 Staaten. Der Prozess ist praktisch irreversibel, denn ein einzelner Vertragsstaat darf mit einem Drittstaat keine Einreiseerleichterung mehr aushandeln. Die Visumpflicht war schon immer eine menschenrechtlich bedenkliche Praxis. Die Erteilung des Visums ist eine Art "Gnadenerweis" des ersuchten Staates. Eine Visumsverweigerung wird selten begründet, aussichtsreiche Rechtsmittel für deren Anfechtung gibt es kaum. Die Schengener Regelung verschärft diese Willkür in diskriminierender und für den einzelnen Betroffenen dramatischer Weise. Die Verweigerung des gemeinsamen Visums, die auf Betreiben eines einzigen Vertragsstaates erfolgen kann, bewirkt den Ausschluss aus dem ganzen ST, vielleicht schon in ein paar Jahren aus ganz Westeuropa. Das Menschenrecht der Reisefreiheit wird damit ausgehöhlt.

Der heimliche Abschied von der Genfer Flüchtlingskonvention

Zahlreiche Bestimmungen des Übereinkommens stehen im Konflikt mit der Genfer Flüchtlingskonvention. Das UN-HCR empfahl noch kurz vor der Unterzeichnung des Schengener Übereinkommens Textänderungen, welche den Vorrang der Konvention über die Bestimmungen des Übereinkommens in einer nach internationalem öffentlichen Recht bindenden Form garantieren hätte. Diese Änderungsvorschläge wurden nicht berücksichtigt. Im Einzelnen unterlaufen zahlreiche Bestimmungen das Recht auf Asyl: Es findet eine territoriale Einschränkung statt. Ein Asylgesuch wird in der Regel nur noch im Ersteinreisestaat des ST behandelt. Ein von einem Vertragsstaat abgewiesener Asylwerber kann in einem anderen Vertragsstaat kein neues Asylgesuch einreichen. Der Aufenthalt im gesamten ST ist ihm verboten. Diese Bestimmung verringert die Chancen der Flüchtlinge massiv: Noch bestehen erhebliche Unterschiede in der Asylpraxis der einzelnen Schengen-Staaten. Die neuen Regelungen werden zu einer noch stärkeren "Harmonisierung" auf den kleinsten gemeinsamen Nenner führen, denn die Flüchtlinge werden fortan versuchen, direkt in die Staaten einzureisen, in denen sie am meisten Aussicht auf Erfolg haben. Dies wird in den Staaten mit einer liberaleren Asylpraxis rasch zur Einführung restriktiver Maßnahmen führen. Es versteht sich von selbst, dass die Visumsvorschriften, die vorgesehenen Sanktionen gegen Transporteure (z.B. Fluggesellschaften), die AusländerInnen ohne genügende Dokumente befördern, die Bestrafung illegaler Grenzübertritte und der Menschenschmuggel sowie Aufenthaltsverweigerungen aus Sicherheitsgründen, das Asylrecht trotz anderslautender Beteuerungen im Schengener Übereinkommen vollständig unterhöhlen werden. Bezeichnend für den Geist des Abkommens ist auch Artikel 37: Er sieht einen umfassenden Informationsaustausch über asylpolitische Fragen vor: Lagebeurteilungen über die Situation in den Herkunftsländern, Flüchtlingsbewegungen und anderes statistisches Material. Im Interesse eines gerechten Verfahrens und einer demokratischen Auseinandersetzung müssten all diese Informationen ganz selbstverständlich öffentlich zugänglich sein. Doch auch hier ist die Möglichkeit der Geheimhaltung ausdrücklich vorgesehen. Wie sollen humanitäre Organisationen und Rechtsanwälte noch arbeiten können, wenn ihnen die Informationen, auf denen die behördliche Asylpolitik beruht, verwehrt werden? Wie kann ein Asylwerber verhindern, dass seine zur Begründung seines Asylgesuchs geleisteten Auskünfte über seine persönlichen Fluchtmotive im Rahmen des Datenaustauschs betreffend individuelle Asylgesuche (Artikel 38) nicht in falsche Hände geraten?

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Der Artikel wurde von der Redaktion redigiert. Der zweite Teil erscheint im nächsten JURIDIKUM. Nicholas Busch ist Mitglied von CEDRI und lebt zur Zeit in Schweden.