Straßburg. Der Prozess, in dem PKK-Chef Abdullah Öcalan 1999 in der Türkei zum Tode verurteilt wurde, stellte kein faires Verfahren dar. Zu diesem Ergebnis gelangte im März dieses Jahres der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem (in Folge des Irakkrieges weitgehend unbeachtet gebliebenen) Urteil. Öcalan wurde im Februar 1999 in Nairobi von Vertretern der kenianischen Regierung in der griechischen Botschaft angehalten und zu einem Flugzeug gebracht, in dem er von türkischen Beamten verhaftet wurde. Ihm wurde von der türkischen Regierung im Prozess die Gründung einer bewaffneten Vereinigung zur Zerstörung der territorialen Integrität der Türkei und die Anstiftung zu terroristischen Akten vorgeworfen. Das Gericht, das Öcalan verurteilte, setzte sich ursprünglich aus zwei zivilen Richtern und einem Militärrichter zusammen. Während des Verfahrens wurde der Militärrichter in Folge einer Gesetzesänderung durch einen zivilen Richter ersetzt. Die verhängte Todesstrafe wurde nach einer Verfassungsnovelle 2002 in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt.

In insgesamt fünf von elf Beschwerdepunkten hinsichtlich dieses Verfahrens gab der EGMR der Beschwerde Öcalans Recht: Jeweils einstimmig stellte der Gerichtshof Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) fest, weil Öcalan sich während der ersten zehn Tage seiner Anhaltung in Isolationshaft befand und so keine Möglichkeit hatte, ein Rechtsmittel gegen die Haft zu erheben (Art. 5 Abs. 4), er nicht unmittelbar nach Verhängung der Haft einem Richter vorgeführt wurde (Art. 5 Abs. 3) und die Regeln eines fairen Verfahrens verletzt wurden, indem u.a. seinen Anwälten die Ermittlungsakten im Umfang von 17.000 Seiten erst zwei Wochen vor der Verhandlung übermittelt wurden und Anzahl und Dauer der Anwaltsbesuche beschränkt worden waren (Art. 6). Mit sechs gegen eine Stimme wurde eine weitere Verletzung von Art. 6 der Konvention festgestellt, weil aufgrund der (zeitweiligen) Beteiligung des Militärrichters das türkische Gericht nicht als unabhängiges Tribunal anzusehen war.

Im Hinblick auf die Frage der Zulässigkeit der Todesstrafe vertrat der EGMR die Ansicht, dass angesichts der Umwandlung des Todesurteils in eine Haftstrafe nur noch zu prüfen war, ob die Verhängung der Todesstrafe die Konvention verletzt, während die Beschwerde hinsichtlich der Vollstreckung der Todesstrafe verworfen werden konnte. Auch wenn die Türkei das 6. Zusatzprotokoll zur EMRK, in dem das Verbot der Todesstrafe normiert ist, noch nicht ratifiziert hatte, hielt der EGMR fest, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass infolge der ständigen Praxis der Mitgliedstaaten der Konvention die Verhängung der Todesstrafe auch als eine Art. 3 EMRK widersprechende unmenschliche und erniedrigende Behandlung betrachtet werden kann. Es war nach Ansicht des Gerichtshofes aber nicht notwendig, diesbezüglich eine endgültige Entscheidung zu treffen, da die Verhängung der Todesstrafe in jedem Fall konventionswidrig ist, wenn dies in einem unfairen Verfahren geschieht. Mit sechs zu eins Stimmen wurde daher eine Verletzung von Art. 3 der Konvention festgestellt.
Dagegen wurde einstimmig beschlossen, dass eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 (persönliche Freiheit) nicht vorlag. Dieser Punkt der Beschwerde stellte nach Angaben der Anwälte Öcalans den Kernpunkt des Verfahrens dar. Konkret wurde bemängelt, dass Öcalan rechtswidrig seiner Freiheit beraubt worden sei und dass nach dieser Freiheitsberaubung kein Auslieferungsverfahren stattgefunden habe. Der EGMR erklärte dazu, dass er davon ausgeht, dass eine Festnahme durch die Behörden eines Staates auf dem Territorium eines anderen Staates ohne Zustimmung des letzteren das individuelle Recht gemäß Art. 5 Abs. 1 der Konvention verletzt. Die Kernfrage, die der Gerichtshof nach seiner Auffassung daher entscheiden musste, war, ob Öcalan in Kenia aufgrund von Handlungen türkischer Beamter festgenommen worden war, welche die Souveränität von Kenia und das internationale Recht verletzt hatten (Behauptung Öcalan) oder ob die Festnahme das Ergebnis einer bilateralen Kooperation zwischen türkischen und kenianischen Behörden war (Behauptung der türkischen Regierung). Der EGMR gelangte zur Ansicht, dass nicht in einer über alle Zweifel erhabenen Weise dargelegt worden sei, dass die von türkischen und kenianischen Beamten durchgeführte Operation eine Verletzung der Souveränität Kenias und damit des Völkerrechts darstellte. (EGMR 12. 3. 2003, Öcalan gegen Türkei)