1. Einleitung
Die jüngsten Diskussionen um die österreichischen Verstrickungen in der NS-Zeit und die jahrzehntelange Weigerung der Republik, dafür die Verantwortung zu übernehmen (Stichwort „Opferthese“) liefern ein Musterbeispiel der Interaktion von Recht, Politik und Zeit-Geschichte. Angesichts drohender und tatsächlich laufender Gerichtsverfahren rund um Entschädigungsfragen trat nicht nur der massive Vermögensentzug zutage, der NS-Opfern in Form von „Arisierungen“ und anderen Maßnahmen zugefügt wurde, sondern es wurde insbesondere auch die Problematik der Restitution entzogener Vermögen in der Nachkriegszeit thematisiert. In einer gegenüber der seinerzeitigen Selbstsicht der Akteure deutlich kritischeren Sichtweise wurden dabei sowohl die gesetzgeberischen Maßnahmen als auch die Praxis der Entschädigungen als bewusst verzögernd/zögerlich, zumindest tendenziell antisemitisch bzw. diskriminierend und generell unzureichend gedeutet. Unter dem Eindruck dieser neueren Forschungen bildete die Fragestellung der Vermögensentschädigung und Restitution einen Schwerpunkt des Arbeitsprogramms der Historikerkommission, welche die Verfahren vor den Rückstellungskommissionen sowie vor den Finanzlandesdirektionen in repräsentativer Weise beschreiben und analysieren ließ.
Darüber hinaus fand die Erkenntnis, dass zumindest manche Rückstellungsverfahren massiv ungerecht verlaufen sein dürften, auch Eingang in das EntschädigungsfondsG. Dieses ermöglicht ausnahmsweise auch in Fällen, in denen ein Entschädigungsanspruch bereits Gegenstand eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens vor einem österreichischen Gericht oder einer österreichischen Behörde war bzw. durch einvernehmliche Regelung (d.h. durch Vergleich) erledigt wurde, eine Antragstellung an den Entschädigungsfonds, wenn die seinerzeitige Entscheidung bzw. Regelung als „extrem ungerecht“ eingestuft wird. Bevor auf den Begriff der „extremen Ungerechtigkeit“ näher eingegangen wird, ist es nötig, Rechtsgrundlagen und Praxis der Rückstellungen an NS-Opfer in der Nachkriegszeit kurz zu rekapitulieren.
2. Die Rückstellungsgesetzgebung der Nachkriegszeit
Bereits während des Zweiten Weltkrieges war von Seiten der Alliierten in der sog Londoner Erklärung vom 5. Jänner 1943 angekündigt worden, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun werden, „um die Enteignungsmethoden der Regierungen, mit denen sie im Krieg stehen“ zunichte zu machen. Mit § 1 NichtigkeitsG 1946 (BGBl Nr. 106/1946) wurden denn auch alle Vermögensübertragungen, die „während der deutschen Besatzung Österreichs im Zuge seiner politischen oder wirtschaftlichen Durchdringung durch das Deutsche Reich erfolgt sind“, für null und nichtig erklärt. Allerdings wurde die Durchführung ausdrücklich einer besonderen gesetzlichen Regelung vorbehalten, die dann v.a. durch die sieben RückstellungsG erfolgte. Zum Vollzug des 1. und des 2. RückstellungsG war jeweils ein Verwaltungsverfahren vor den Finanzlandesdirektionen vorgesehen, wobei die Finanzprokuratur die Interessen des Bundes vertrat. Das 3. RückstellungsG (BGBl Nr. 54/1947) bildete die allgemeine Grundlage für Rückstellungen inter privatos. Das Verfahren war hier im Wesentlichen ein Außerstreitverfahren, das vor eigenen Gerichten (den auf der Ebene der Landesgerichte eingerichteten Rückstellungskommissionen, denen beim OLG eine Rückstellungsoberkommission und beim OGH eine Oberste Rückstellungskommission entsprach) geführt wurde. Ca. drei Viertel der (insgesamt über 40.000) Verfahren fanden vor der Rückstellungskommission Wien statt, da die überwiegende Zahl der jüdischen NS-Opfer in Wien gelebt hatten. Zur Antragstellung waren kurze Fristen vorgesehen, die zwar mehrmals im Verordnungsweg verlängert wurden, (von Ausnahmen abgesehen) aber spätestens 1956 endeten.
Hervorzuheben ist, dass alle diese Gesetze von der Prämisse ausgingen, dass Österreich nicht Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches und damit auch nicht für die unter NS-Herrschaft zugefügten Schäden verantwortlich sei. Die Rückstellungsverfahren dienten im Wesentlichen bloß zur Restitution von noch vorhandenem Vermögen, eine volle (materielle) Wiedergutmachung der Schäden von NS-Opfern war damit von vornherein ausgeschlossen. Da zudem bei beweglichem Vermögen die dem § 367 ABGB nachgebildete Vorschrift des § 4 des 3. RückstellungsG einen Gutglaubenserwerb ermöglichte, betrafen die meisten erfolgreichen Rückstellungsverfahren Liegenschaften. Bei diesen war aber eine Rückstellung auch dann erfolgreich, wenn die Liegenschaft mittlerweile an einen Rechtsnachfolger gelangt war, der mit der Entziehung überhaupt nichts zu tun hatte. Die Rückstellungspflichtigen mussten umgekehrt einen seinerzeit erzielten Kaufpreis, soweit dieser „in ihre freie Verfügung gelangt war“, zurückzahlen; des Weiteren gab es spezielle schuldrechtliche Rückabwicklungsvorschriften hinsichtlich Aufwandersatz, Nutzungen und Schadenersatz.
3. Das EntschädigungsfondsG und der Paradigmenwechsel der Restitution
Über fünf Jahrzehnte nach den Rückstellungsgesetzen geht das EntschädigungsfondsG 2001 von einer zumindest moralischen Verantwortlichkeit Österreichs für Vermögensverluste von NS-Opfern aus, denen durch finanzielle Leistungen aus einem mit 210 Millionen Dollar ausgestatteten Entschädigungsfonds Rechnung getragen werden soll. Für bestimmte Vermögenskategorien (§ 14 EntschädigungsfondsG) ist ein „Forderungsverfahren“ vorgesehen, in dem konkrete Forderungen (nach erleichterten Beweisstandards) vor einem aus drei Personen bestehenden „Antragskomitee“ geltend gemacht werden können. Anerkannte Forderungen sollen letztlich aus einem (erst zu bestimmenden) Gesamtbetrag anteilsmäßig befriedigt werden. Auch für bereits im Zuge von Rückstellungsverfahren endgültig entschiedene oder durch einvernehmliche Regelung beendete Fälle ist eine Zuerkennung „in besonderen Einzelfällen“ möglich, sofern das „Antragskomitee einstimmig zu der Auffassung gelangt“, dass die seinerzeitige Entscheidung bzw. Regelung im konkreten Fall eine „extreme Ungerechtigkeit“ dargestellt hat (§ 10 Abs. 2 iVm § 15 Abs. 1 Z 2 leg cit).
Über Ansprüche auf Naturalrestitution von „öffentlichem Vermögen“ (darunter fallen v.a. Liegenschaften des Bundes, vgl. § 28 leg cit) entscheidet eine Schiedsinstanz, wobei auch hier bereits entschiedene Fälle ausnahmsweise dann neu aufgerollt werden können, wenn die Schiedsinstanz einstimmig befindet, dass die seinerzeitige endgültige Entscheidung oder einvernehmliche Regelung „extrem ungerecht“ war oder aber mangels an Beweisen abgelehnt wurde, wobei die Beweise in der Zwischenzeit zugänglich sind (§ 32). Mit diesen Bestimmungen wollte der Gesetzgeber erkennbar einerseits am Grundsatz der Rechtskraft der Rückstellungsentscheidungen der Nachkriegszeit festhalten, andererseits aber in konkreten Einzelfällen Ausnahmen zulassen. Das bedeutet, dass generell die seinerzeit getroffenen behördlichen und gerichtlichen Entscheidungen in Rückstellungssachen sowie die getroffenen einvernehmlichen Regelungen auch im Rahmen der (ohnedies nicht als Rechtsanspruch bestehenden) Geltendmachung von Vermögensschäden im Zuge der Verfahren des EntschädigungsfondsG als rechtlich bindend anzusehen sind. Anderes gilt nur dann, wenn im konkreten Fall eine „extreme Ungerechtigkeit“ einstimmig vom Antragskomitee bzw. von der Schiedsinstanz festgestellt wird, wobei auch diesbezüglich im Forderungsverfahren gem. § 15 „erleichterte Beweisstandards“ gelten.
4. Kriterien „extremer Ungerechtigkeit“
Was unter einer „extremen Ungerechtigkeit“ zu verstehen ist, wird vom Gesetz nicht näher ausgeführt. Aufgrund des spezifischen Zweckes und der Systematik des Gesetzes ergibt sich jedoch, dass es gewichtige Gründe im Einzelfall sein müssen, die es rechtfertigen, eine Neubewertung einer res iudicata vorzunehmen.Wenngleich der Ausdruck „extreme Ungerechtigkeit“ an die berühmte „Radbruchsche These“ erinnert, der zufolge bei „Gesetzen willkürlichen und verbrecherischen Inhalts“, wie sie im Nationalsozialismus vorkamen, auch einer von den zuständigen Organen erzeugten Norm der Rechtscharakter abzusprechen ist, so geht es bei der extremen Ungerechtigkeit iSd EntschädigungsG um etwas anderes: Im Einzelfall wird ermöglicht, gravierende Fehler einer vergangenen Entscheidung bzw. einvernehmlichen Regelung zu relevieren. „Extrem“ ist dabei nicht als außergewöhnlich hohe Hürde zu sehen, sondern soll wohl im speziellen Kontext darauf Rücksicht nehmen, dass an und für sich schon Entziehungen und bloß partielle auf die Rückgabe des Vorhandenen reduzierte Rückstellungen „Ungerechtigkeiten“ (iS einer nie vollständig möglichen „Wiedergutmachung“) darstellen.
4.1. „Extrem ungerechte“ Entscheidungen
Unter „extremer Ungerechtigkeit“ sind jedenfalls solche Mängel des seinerzeitigen Verfahrens zu verstehen, die auch sonst in der Rechtsordnung zur Wiederaufnahme bereits rechtskräftig entschiedener Fälle oder zu deren Anfechtung durch Nichtigkeitsklage führen. Darüber hinaus wird aber auch eine qualifizierte inhaltliche Unrichtigkeit der seinerzeitigen Entscheidung als „extreme Ungerechtigkeit“ zu werten sein. Die Mängel können also sowohl materieller als auch prozessualer Art sein, müssen aber so gewichtig sein, dass unter Zugrundelegung einer gesetzeskonformen Vorgangsweise eine substantiell andere Entscheidung zu fällen gewesen wäre.
„Ungerecht“ ist zwar nicht identisch mit „rechtswidrig“, der unbestimmte Gesetzesbegriff des EntschädigungsfondsG ist aber verfassungskonform iSd Legalitätsprinzips so zu interpretieren, dass die Ungerechtigkeit auch eine Gesetzwidrigkeit dargestellt haben muss. Gemeint sein dürfte eine qualifizierte Rechtswidrigkeit, d.h. eine Rechtswidrigkeit, die positivierten Wertvorstellungen des Gesetzgebers in gravierender Weise widerspricht.
Die Regelungen des EntschädigungsfondsG sind dabei auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass in den Verfahren des 3. RückstellungsG eine Wiederaufnahme von Verfahren seinerzeit ausgeschlossen war, weil die damalige Judikatur in Außerstreitverfahren den Rechtsbehelf der Wiederaufnahme nicht zuließ. Mittlerweile hat sich die Judikatur in dieser Frage zwar geändert, aufgrund der absoluten Frist der Wiederaufnahmeklage gem. § 534 Abs. 3 ZPO (10 Jahre nach Eintritt der Rechtskraft) ist aber dennoch eine Wiederaufnahme praktisch unmöglich geblieben. In diesem Bereich erlaubt das EntschädigungsfondsG bei Vorliegen „extremer Ungerechtigkeit“ in Ausnahmefällen die Geltendmachung von Ansprüchen, die bereits in früheren Verfahren rechtskräftig abgelehnt bzw. erledigt wurden.
Dass auch seinerzeit getroffene einvernehmliche Regelungen als „extrem ungerecht“ zu qualifizieren sein können, ist nur konsequent: In vielen Rückstellungsverfahren wurde letztlich ein Vergleich getroffen, der aber regelmäßig durch das vorangegangene gerichtliche oder behördliche Rückstellungsverfahren vorgeprägt war. Lässt sich folglich ein Zusammenhang des Vergleichsergebnisses mit einem qualifiziert fehlerhaften Verfahren nachweisen oder war das Ergebnis nach den oben entwickelten Kriterien zumindest in inhaltlicher Hinsicht „extrem ungerecht“, so kann auch von einer getroffenen einvernehmlichen Regelung für die Zwecke des EntschädigungsfondsG abgesehen werden.
4.2. „Extrem ungerechte“ gesetzliche Regelungen?
Dass mit der Qualifikation als „extrem ungerecht“ nicht nur konkrete Entscheidungen und Regelungen in Anwendung der Rückstellungsgesetze (iwS) gemeint sein könnten, sondern auch gesetzliche Regelungen selbst, erscheint dagegen eher unwahrscheinlich. Der Gesetzeswortlaut („in besonderen Einzelfällen“) spricht dagegen, dass generelle Regelungen, mögen sie auch aus heutiger Sicht ungerecht erscheinen, unter die „extrem ungerechten“ Entscheidungen oder einvernehmlichen Regelungen iSd EntschädigungsfondsG fallen.
Das schließt freilich nicht aus, dass in solchen Fällen eine Antragstellung in den nun vom EntschädigungsfondsG vorgesehenen neuen (über die alten Rückstellungsregelungen hinausgehenden) Kategorien der Entschädigung möglich sein kann. Hat z.B. jemand nach dem 5. RückstellungsG die Rückstellung eines liquidierten Betriebes betrieben, und war dieses Verfahren wegen Nichterfüllung bestimmter Voraussetzungen des 5. RückstellungsG (d.h. bei gesetzeskonformem Vorgehen und auch nicht mangels Beweisen) nicht erfolgreich, so steht dies der Geltendmachung erlittener Vermögensschäden, die nun unter § 14 Z 1 EntschädigungsfondsG fallen, nicht entgegen. Der Geschädigte ist im Forderungsverfahren vielmehr gleich zu behandeln wie jemand, der – u.U. im Hinblick auf die seinerzeitigen gesetzlichen Bestimmungen – den Ersatz für seinen liquidierten Betrieb gar nicht erst im Wege eines Rückstellungsverfahrens versucht hat. Eine Ungleichbehandlung wäre sachlich nicht gerechtfertigt und verstieße gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz.
Ähnliches gilt für Schäden, die dadurch eingetreten sind, dass bewegliches Vermögen (etwa gem. § 4 des 3. RückstellungsG) gutgläubig von Dritten erworben wurde. Auch hier liegt ein Fall „extremer Ungerechtigkeit“ nur dann vor, wenn die Entscheidung, die den gutgläubigen Erwerb festgestellt hat, mit einem gravierenden Mangel behaftet war.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es bei der Ermittlung der „extremen Ungerechtigkeit“ auf eine Beurteilung ankommt, die zwar vom heutigen Wissensstand (mit z.T. erleichterten Beweisstandards), aber unter Zugrundelegung der rechtlichen Verhältnisse im seinerzeitigen Entscheidungszeitpunkt ausgeht. Gesetzliche Defizite der Rückstellungsregelungen der Nachkriegszeit sind hingegen über die neu geschaffenen Kategorien der Entschädigung nach dem EntschädigungsfondsG zu erfassen, welche der mittlerweile übernommenen „moralischen Mitverantwortung“ der Republik Österreich für Vermögensunrecht der NS-Zeit Rechnung tragen.
5. Beispiele für extreme Ungerechtigkeit
Ob eine „extreme Ungerechtigkeit“ gegeben war, lässt sich nach dem oben Ausgeführten jeweils nur im konkreten Einzelfall feststellen. Dabei ergibt sich freilich das quellenmäßige Problem, dass Unterlagen von Rückstellungsverfahren nur mehr unvollständig erhalten sind. So ist etwa das Material der Rückstellungskommission Wien nur für die Zeit ab 1956 erhalten. Ältere Verfahrensakten sind im Wiener Stadt- und Landesarchiv nur dann vorhanden, wenn das Verfahren bis nach 1955 gedauert hat. Ein Beispiel dafür bietet das auch in sonstiger Hinsicht schillernde Rückstellungsverfahren, das Alma Mahler-Werfel gegen die Republik Österreich angestrengt hat.
5.1. Alma Mahler-Werfel gegen die Republik Österreich
Gegenstand dieses Rückstellungsverfahrens war u.a. das Gemälde „Sommernacht am Strand“ von Edvard Munch, welches Alma Mahler-Werfel anlässlich der Geburt ihrer Tochter Manon (aus der Ehe mit Walter Gropius) geschenkt worden war. Dieses Kunstwerk hatte Mahler-Werfel 1937 der Österreichischen Galerie im Belvedere (gemeinsam mit Bildern ihres Vaters, des renommierten Landschaftsmalers Jakob Emil Schindler) leihweise überlassen. 1938 gelang Mahler-Werfel zusammen mit ihrem Gatten Franz Werfel die Flucht: Gründe für eine politische Verfolgung durch das NS-Regime waren einerseits die jüdische Herkunft Werfels, aber auch die bekannte Nahebeziehung des Ehepaars zum autoritären christlichen „Ständestaat“. In Wien blieb hingegen Mahler-Werfels Stiefvater, der Maler Carl Moll, sowie dessen Tochter Marie, welche mit dem offen als Nationalsozialisten agierenden Vizepräsidenten des Straflandesgerichts Eberstaller verheiratet war. Mahler-Werfel versuchte vergebens aus dem Exil, das Munchgemälde außer Landes zu bringen. Stattdessen erhielt Moll das Gemälde am 18. März 1938 zurück, 1940 verkaufte es seine Tochter Marie um die (durchaus beachtliche) Summe von 7.000 Reichsmark an das in der NS-Zeit in „Galerie des 19. Jahrhunderts“ umbenannte Museum, das vom Kunsthistoriker Bruno Grimschitz geleitet wurde. Dieser ging davon aus, dass der Erlös für die Zwecke der Dachreparatur einer Villa am Semmering diente, welche die exilierte Alma 1939 ihrer in Wien zurückgebliebenen Halbschwester Marie Eberstaller geschenkt hatte. Man stelle sich das vor: Ein Museum hat ein wertvolles Kunstwerk leihweise erhalten, weiß ganz genau, dass die Eigentümerin aus politischen Gründen ins Ausland geflüchtet ist und kauft das Kunstwerk in aller Ruhe „gutgläubig“ von der Halbschwester, ohne irgendeinen Beweis für eine Verfügungsberechtigung zu verlangen ...
1947 verlangte Alma Mahler-Werfel von der Republik Österreich die Rückgabe der Bilder. Einige der Schindler-Bilder erhielt sie zurück: eines 1948, zwei weitere 1954 (also sieben Jahre nach Einbringen des Antrags!). Hinsichtlich des Munch-Gemäldes wies die Rückstellungsoberkommission Wien 1953 den Rückstellungsantrag mit der Begründung ab, das Bild sei gutgläubig erworben worden. Diese Entscheidung ist materiell schlicht nicht nachvollziehbar. Zwar kennt das österreichische bürgerliche Recht ganz allgemein einen Gutglaubenserwerb sogar an gestohlenen und veruntreuten Sachen. Aber hinsichtlich von beweglichen Sachen, die in der NS-Zeit einem politischen Opfer entzogen wurden, kommt ein Gutglaubenserwerb gem. § 4 Abs. 1 des 3. RückstellungsG nur dann in Betracht, wenn die Herkunft aus „arisiertem“ oder anderweitig entzogenem Vermögen dem Erwerber nicht bekannt war bzw. bekannt sein musste. Genau dies war (abgesehen von der Nichterfüllung auch der allgemeinen Voraussetzungen des Gutglaubenserwerbes im konkreten Fall) beim Kauf des Munch-Gemäldes sicher nicht gegeben gewesen. Die Entscheidung der ROK Wien war folglich in inhaltlicher Hinsicht gravierend falsch. Umso schlimmer, dass auch bei dem vor einigen Jahren unternommenen Versuch der Enkelin Marina Mahler-Werfel, vom Kunstrückgabebeirat eine Empfehlung für die Rückgabe zu erhalten, die Restitution mit der formalen Begründung abgelehnt wurde, dass ein rechtskräftig entschiedenes Verfahren vorläge. Das Kriterium der „extremen Ungerechtigkeit“ lässt nunmehr aber – im Rahmen des EntschädigungsfondsG – gerade in solchen Fällen zu, die grobe Unrichtigkeit einer in der Vergangenheit rechtskräftig entschiedenen Sache geltend zu machen.
Zugegebenermaßen ist das Verfahren Mahler-Werfels kein „Normalfall“ der Rückstellungspraxis. Diese war vielmehr im Großen und Ganzen von durchaus rechtsstaatlichen Standards entsprechenden Verfahren gekennzeichnet. Immerhin zeigt der Fall aber, dass es auch für ein berühmtes Opfer des NS-Regime keinesfalls einfach war, von der Republik Österreich Kunstwerke zurückzubekommen. Dennoch dürften in concreto auch eine gewisse „richterliche Solidarität“ und ein „Pietätsgefühl post mortem“ hinsichtlich des ehemaligen Vizepräsidenten des Straflandesgerichts als Gatten der Verkäuferin (welcher sich gemeinsam mit seiner Frau Marie und dem Schwiegervater Moll bei Kriegsende das Leben nahm) bei der m.E. als krasser Fehlentscheidung zu qualifizierenden Ablehnung des Rückstellungsantrages mitgespielt haben.
5.2. Weitere Beispiele extremer Ungerechtigkeit
Ein weiteres Beispiel für zulasten der Rückstellungswerber ergangene Entscheidungen contra legem bietet die Judikatur hinsichtlich des „zur freien Verfügung erlangten“ Verkaufserlöses. Die Rückstellungsgesetzgebung war, gerade im Hinblick auf diskriminierende Abgaben der Nazizeit (wie der „Reichsfluchtsteuer“ und der „Judenvermögensabgabe“), davon ausgegangen, dass von einem anlässlich einer „Arisierung“ (oder einem sonstigen Vermögensentzug) gezahlten Kaufpreis im Zuge der Rückabwicklung nur jener Teil vom Verfolgten zurückzuzahlen sei, der ihm auch „zur freien Verfügung“ zugekommen war. Die Rückstellungskommissionen entschieden dennoch verschiedentlich, dass auch Erlöse, die an von der NS-Bürokratie aufgezwungene „Bevollmächtigte“ bzw. auf „Judensperrkonten“ flossen, in die „freie Verfügung“ der unter Druck verkaufenden Personen gelangt war. Daher mussten z.T. auch Summen, die den Flüchtenden vom NS-Staat abgepresst worden waren, von letzteren an die „Ariseure“ (bzw. deren Rechtsnachfolger) gezahlt werden, um wieder in den Genuss ihres entzogenen Eigentums zu gelangen. Da diese Entscheidungen in einer für die Rückstellungswerber nachteiligen Art dem klaren Wortlaut und der Zielsetzung des 3. RückstellungsG widersprechen, sind sie als „extrem ungerecht“ iSd EntschädigungsfondsG zu qualifizieren.
Darüber hinaus lassen sich aus dem äußerst vielfältigen und häufig auch komplexen Panorama von Rückstellungsverfahren viele weitere Umstände einer potentiellen „extremen Ungerechtigkeit“ vorstellen: So etwa, dass trotz Vorhandensein mehrerer Rückstellungsberechtigter nur Einzelne entschädigt wurden und andere übergangen worden waren. Oder aber, dass bei der Bewertung von Liegenschaften die Gutachter (auch nach den Maßstäben der Nachkriegszeit) eklatante Fehleinschätzungen lieferten. Oder aber, dass im Zuge der Rückstellung von Unternehmen von überhöhten Finanz- und Sozialversicherungsabgaben ausgegangen wurde, welche in der NS-Zeit in einem schikanösen Verfahren festgestellt worden waren. Diese Fälle sind hier zwar rein hypothetisch angeführt, die Analyse einer großen Zahl von Verfahren konnte für die Existenz derartiger Probleme aber zumindest Anhaltspunkte liefern.
6. Schlussbemerkung
Trotz gewisser Mängel in der Rückstellungspraxis und trotz einzelner Fehlentscheidungen ist das Vorliegen von „extrem ungerechten“ Rückstellungsentscheidungen sicher nicht als Regelfall anzunehmen. In Einzelfällen kann eine rechtshistorische und dogmatische Analyse aber durchaus ergeben, dass eine in der Nachkriegszeit gefällte Entscheidung oder einvernehmliche Regelung in derart gravierender Weise zum Nachteil des Rückstellungswerbers vom Recht abwich, dass in Verfahren nach dem EntschädigungsfondsG ausnahmsweise trotz res iudicata Leistungen zuerkannt werden können. Rechtsgeschichtliche Expertise kann in solchen Fällen einen kleinen Beitrag zur Beseitigung jenes Unrechts leisten, welches NS-Opfern nicht nur während der Hitlerzeit selbst, sondern auch noch danach zugefügt wurde.