Die Ratten verlassen das sinkende Schiff:

Was hier schon deutlich den Bug nach vorne neigt, ist das alte Europa als eine Struktur, gebildet aus Staaten vom Typ bürgerlicher Verfassungs- und (mehr/weniger) Nationalstaat. Ein Überbleibsel als Nachkriegsordnung, mühsam rekonstruierte Zwischenkriegsordnung. Was dabei schnell ins Rutschen gerät, ist die Fracht der bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechte vom Typ "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789". Und die Ratten? Nachdem sie noch eine Zeit lang so taten, als ob alles in gewohnter Ordnung wäre, springen sie nun nach und nach ab und schwimmen neuen Ufern entgegen: Brüssel ist sehr begehrt, Schengen ein exklusiver Treffpunkt für Ratten, Straßburg eine Zuflucht für solche mit gutem Willen oder schlechtem Gewissen.

 

Und die Grund- und Freiheitsrechte?

"Symposien über den weiteren Ausbau der Freiheitsrechte, gelehrte Abhandlungen in Fachzeitschriften und Forderungen nach individuellem Rechtsschutz können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Hoch-Zeit der Menschenrechte - sicherlich nicht nur in Österreich - vorbeiseindürfte", schreibt Verfassungsrichter Ministerialrat Dr. Peter Jann in der "Presse" (24./25.11.1990). Und er zögert nicht, gleich eine herzerfrischende Begründung anzuschließen: "Etliche Grundrechte (zum Beispiel das Versammlungsrecht, die Meinungsfreiheit und die Kunstfreiheit) werden immer häufiger in einer so exzessiven Weise in Anspruch genommen, dass viele andere Personen (denen schließlich auch Grundrechte zustehen) dadurch erheblich beeinträchtigt werden. Im Medienzeitalter erregen jene Demonstrationen und Manifestationen die größte Aufmerksamkeit, welche die stärksten Störungen auslösen! Der 'Erfolg' einer solchen Veranstaltung ist erst dann wirklich gesichert, wenn das Fernsehen in Bild und Ton darüber berichtet. Die bewirkte Störung wieder hat zur Folge, dass viele davon Betroffene sich ärgern und fragen, warum die Behörden so etwas überhaupt zulassen. Es liegt auf der Hand, dass das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in der Meinung dieser Menschen an Stellenwert verliert, wenn sie als 'Opfer' dieses Menschenrechts zum Handkuß kommen. Ähnliches gilt auch für die Meinungsfreiheit und für die Freiheit der Kunst..."

Also - zuerst einmal Luft holen. Dass die Hoch-Zeit der Menschenrechte nicht nur in Österreich vorbei sein dürfte, dürfte eine realistische Einschätzung des Herrn Verfassungsrichters sein, und wir freuen uns über seinen ehrlichen Befund. Aber er soll die Schuld dafür nicht den Bürgern zuschieben, die durch irgendetwas "beeinträchtigt", "gestört" und "geärgert" werden (jetzt komme mir niemand - wie es in diesem Jahr üblich geworden ist - mit dem Mercedes, der bei der letzten Opernballdemonstration Schaden nahm: das betraf ja wohl bei den zigtausenden in Österreich zugelassenen Kraftfahrzeugen nicht die von Doktor Jann herbeizitierte Bevölkerung). Und glaubt der Herr Verfassungsrichter allen Ernstes, dass Menschen deshalb demonstrieren und Häuser besetzen, und dass es dabei zu "Störungen" kommt, weil der Erfolg einer derartigen Veranstaltung erst dann gesichert ist, wenn das Fernsehen über die "Störung" berichtet? Könnte es nicht vielmehr möglich sein, dass die Leute deshalb demonstrieren, weil sie selbst bereits in einem oder mehreren Grundrechten "beeinträchtigt" sind und sich deshalb "ärgern"? Könnte es nicht außerdem möglich sein, dass diese Leute auf die Berichterstattung im Fernsehen durchaus keinen Wert legen, da sie dort noch seltener eine gute Nachrede haben (gerade wegen "Störungen")? Was meint Herr Doktor überhaupt mit "Störungen"? Die Angriffe bewaffneter Neonazi-Banden auf unbewaffnete Demonstranten, den militärischen Einsatz der Berliner Polizei gegen Hausbesetzer in einer Stadt, in der das (von mir unterstellte) Menschenrecht auf Wohnen für viele unerfüllbar wird? Oder meint er die zerbrochene Fensterscheibe eines Kreditinstituts, das verletzte Schienbein eines Polizisten? Ein bisschen erklären müsste er das schon. Und dann hätten wir da die ungezählten Menschen, die (sagt er) als "Opfer" des Menschenrechts auf Versammlungsfreiheit "zum Handkuß" kommen: Wie kommen die zu was? Werden die bei so einer Versammlung verprügelt (in den Fällen, in denen das geschieht, müsste man eher die Abschaffung der Polizei fordern) oder werden die zu Opfern der Medienberichterstattung über die "Störungen"? Wenn die sich diese Medien ohne Störung gefallen lassen, dann sollen sie sich die "Störung" auch gefallen lassen, pardon und küß' die Hand.

Wenn Herr Doktor Jann auf die Freiheit der Kunst kommt, werde ich rabiat und halte ihm einen Text unter die Nase, dem er entnehmen kann, wer oder was ein Grundrecht wirklich bedroht (jedenfalls nicht die, die es ausüben wollen - so viel sei verraten): "Wir, Künstler und Kulturschaffende aus allen Bereichen, keinem verpflichtet als unserer Kunst und der Kultur unserer Länder, haben uns am 17. Juni 1987 in Paris in den 'Etats Generaux de la Culture' zusammengefunden und richten folgenden Appell an die Bürger unserer Länder und an die Künstler und Kulturschaffenden der ganzen Welt: Ein Volk, das seine kulturelle Tradition und Phantasie kommerziellen Interessen unterwirft, liefert sich aus. Seit Jahren gibt es in Frankreich eine Entwicklung, die zu schlimmsten Befürchtungen Anlass bietet. Anstelle von Förderung und Pflege zeitgenössischer Kunst - ein Zeichen für kulturelles Leben einer Nation - ist in der Folge fortschreitender Vermarktung die Forderung nach Rentabilität getreten. Auch der Staat, dem doch Schutz und Entwicklung authentischer Kultur seines Landes Aufgabe sein sollten, unterwirft sich mehr und mehr diesem Gesetz. Das Resultat ist das Ersticken von Talent und Erfindungs­gabe oder deren Abwandern in andere, finanziell einträglichere Bereiche - damit verbunden eine Statusverminderung der Künstler. Die Zahl der Arbeitslosen unter ihnen steigt ständig. Dabei zeigt ein Blick auf Film, Theater, Fernsehen und Funk, Tanz und Musik, Chansons, Zirkus, Architektur, auf die grafische und bildhauerische Kunst, aufs Foto und in die Literatur und Poesie, dass nicht etwa die Talente fehlen. Im Gegenteil: die sind da und sehr lebendig. Sie werden aber zunehmend bestimmt und dirigiert von Kräften, die über Macht und Geld verfügen, sich künstlerische Kompetenz anmaßen und die Masse dazu verurteilen wollen, standardisierte, schnell und leicht verwertbare Produkte ohne Geist und Seele, Sinn und Verstand zu konsumieren, Erzeugnisse, deren einziger Maßstab der an Auflagenhöhe und Statistik ablesbare Massengeschmack ist. In einer solchen Welt, in der Kunst nur noch als Ware funktioniert, wäre der Künstler nur ein zufälliger Gast. Für Hinkelsteinverkäufer und Verfassungsrichter: Europäische Konsumindustrie fressen Grundrecht auf! Nicht nur in der Kultur.