EIN BLICK IN DEN STATISTIKDSCHUNGEL:

Im Folgenden soll die Situation ausländischer Kinder und Jugendlicher kurz umrissen werden. "Umrisshaft deshalb, weil es sich erstens um einen sehr komplexen Bereich handelt, dessen genauere Analyse in diesem Beitrag nicht möglich ist, zweitens, weil uns die notwendigen Untersuchungen und Daten über diese Thematik fehlen ..." .

Vor mehr als 8 Jahren hat J. Freigang einen Aufsatz über die "Zweite Generation" mit den oben zitierten Worten begonnen. Seit damals hat sich jedoch das Interesse der ForscherInnen nicht wesentlich geändert und Untersuchungen zu diesem Thema sind nach wie vor selten - obwohl die Schülerzahlen ausländischer Kinder steigen und sich die sogenannte Gastarbeiterpopulation in den letzten Jahren sehr geändert hat: von 1980 bis 1989 stieg die Population türkischer Staatsbürger in Wien um 86% und die der Jugoslawen um 19%. Ausschlaggebend dafür ist der verstärkte Familiennachzug. Im September 1990 wird der Höchststand von 226.800 ausländischen Arbeitskräften in Österreich aus dem Jahr 1973 erstmals gebrochen und liegt nun bei 242.713. (Nach 1973 wurde der Anteil an ausländischen Arbeitskräften abgebaut.) Die Situation ausländischer Kinder und Jugendlicher soll in diesem Artikel nun kurz umrissen werden: auf der einen Seite sollen Zahlen einen statistischen Überblick verschaffen - lediglich einen Überblick deshalb, weil ich der Meinung bin, dass Zahlen nicht in der Lage sind, Lebenswelten zu beschreiben. Dies können die Betroffenen am besten. Aus diesem Grund sollen mit Hilfe von Interviewausschnitten einige Aspekte der kulturellen Zwischenwelt beschrieben werden.

**"Gast"arbeiterInnenkinder** an Wiener Pflichtschulen:

Der Anteil der ausländischen PflichtschülerInnen an Wiener Schulen hat sich in den letzten 9 Jahren verdoppelt. Waren 1981/82 12,9% aller SchülerInnen an Wiener Pflichtschulen ausländischer Herkunft, so waren dies im Schuljahr 1989/90 25,64%. Im Schuljahr 1990/91 ist der Anteil ausländischer Kinder wiederum um 2,73% gestiegen und beträgt mittlerweile 28,37%. Die Verteilung ausländischer SchülerInnen an Wiener Pflichtschulen ist von Bezirk zu Bezirk unterschiedlich. Im 5. und 15. Bezirk beträgt der Anteil rund 50%. Im 6., 7., 16., 17. und 20. Bezirk sind ca. 40% aller SchülerInnen AusländerInnen. Nur in den Stadtrandsiedlungen, die ab den 50er Jahren gebaut wurden, v. a. im 21., 22. und 23. Bezirk, beträgt der Anteil der ausländischen PflichtschülerInnen weniger als 10%.

Die Verteilung der ausländischen Kinder an den verschiedenen Pflichtschulen ist disproportional: so sind 21,9% aller VolksschülerInnen, 32,5% aller HauptschülerInnen, 21,2% aller Schülerinnen des Polytechnischen Lehrgangs, 45% aller SchülerInnen der Allgemeinen Sonderschule Kinder mit nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft. An Wiener Gymnasien sind rund 3% ausländische SchülerInnen (geschätzte Zahl: Stadtschulrat). Das selektive österreichische Schulsystem führt dazu, dass vorwiegend Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen, wie zum Beispiel Kinder von "Gast"arbeiterInnen, Schulen niedriger Qualifikation besuchen: so gehen "nur" 2,6% aller Wiener PflichtschülerInnen in die Allgemeine Sonderschule - jedoch 7,2% aller jugoslawischen und 6,8% aller türkischen Kinder. Weiters belegen die Statistiken deutlich, dass fast die Hälfte aller "Gast"arbeiterInnenkinder keinen Pflichtschulabschluss erlangen - und die, die einen haben, sind meistens AbsolventInnen der Allgemeinen Sonderschule oder der Hauptschule B-Zug. "Von jenen Kindern, die im Juni 1982 ihre Schulpflicht beendeten, erreichten nur 23,5% der türkischen und 25,3% der jugoslawischen die vorgesehene 9. Schulstufe. 42,6% dieser türkischen Schulabgänger und 28,4% der jugoslawischen wurden in der 5., 6. oder 7. Schulstufe aus der Schulpflicht entlassen, d. h. ohne regulären Abschluss, der ihnen die Chance auf eine Lehrstelle oder auch nur auf eine etwas qualifizierte Berufstätigkeit eröffnet hätte" . Eine aktuellere Erfolgsstatistik gibt es leider nicht: "Damit es nicht zu noch mehr Ausländerfeindlichkeit kommt ... Sie wissen ja, es könnte von gewissen Kreisen behauptet werden, dass ausländische Kinder dümmer sind ..." (Gespräch mit einem zuständigen Mitarbeiter im Stadtschulrat). Dass Statistiken von verschiedenen Leuten unterschiedlich interpretiert werden, ist ein alter Hut - aber ist es denn im Sinne einer Chancengleichheit nicht notwendig, der jeweiligen Lage ins Auge zu sehen?

Die Schule ist im Allgemeinen die erste Konfrontation der "Gastarbeiterkinder" mit einer Institution, "wo nicht nur ausschließlich die fremde Kultur herrscht, sondern, wo auch vom Kind neue Verhaltensformen verlangt werden, die für Jugendliche der 'zweiten Generation' keine wesentlichen Erleichterungen für die Integration in den österreichischen Arbeitsmarkt darstellen. Sie werden also bei der Arbeitsvermittlung und -beratung, bei der Erteilung von Beschäftigungsbewilligungen und Befreiungsscheinen ebenso wie ihre Eltern unter der Fiktion behandelt, dass es sich bei ihnen um 'vorübergehend in Österreich anwesende ausländische Arbeitskräfte' handle."

Die Bildungs- und Ausbildungsziele ausländischer Eltern sind jedoch sehr hoch. So wollen z. B. weniger als 10% der Eltern für ihre Kinder, dass sie nach der Schule gleich arbeiten gehen sollen. Das gilt sowohl für Mädchen als auch für Buben. Auch die Jugendlichen selbst haben in drei Viertel der Fälle dieselben Ansprüche an sich wie ihre Eltern. Die Realität sieht für sie jedoch anders aus. Im Oktober 1990 waren 25,9% aller ausländischen Arbeitslosen Jugendliche im Alter von 15 - 25 Jahren. Dies entspricht einem Jahresdurchschnitt von 16,6%. Gemessen an allen in Österreich gemeldeten Arbeitslosen, beträgt der Anteil ausländischer arbeitsloser Jugendlicher zwischen 15 und 25 Jahren 3,2%. Aus einer 1985 veröffentlichten Studie vom Bundesministerium für Soziale Verwaltung kann entnommen werden, dass 45% der "Zweiten Generation" unter 26 Jahren als Arbeiter und Hilfsarbeiter tätig sind - genau dem Anteil der ungelernten Arbeiter in der "Ersten Generation". Der Anteil der Arbeitslosen ist jedoch bei der "Zweiten Generation" deutlich höher als bei der Ersten. Die Diskrepanz zwischen Wünschen und realen Chancen und Bedingungen erzeugt ein enormes Potenzial an Frustration, "das im Unterschied zur ersten Generation kaum mehr noch durch die Rückkehrillusionen eingedämmt werden kann" .

**Zwischen zwei Welten**
Die Sozialisation der "Gast"arbeiterInnenkinder ist von unterschiedlichen und widersprüchlichen Normen und Werten geprägt. Gelten zu Hause agrarisch-patriarchalische und oft auch islamische Werte, so sind die Kinder spätestens mit Eintritt in die Schule mit einem anderen Werte- und Normensystem konfrontiert. Diese Doppeldeutigkeit ist für die Identität und das Leben der Kinder und Jugendlichen charakteristisch. Die Eltern können den Kindern oft keine Orientierungshilfen bieten, weil sie oft selbst mit der neuen Umwelt nur sehr schwer zurechtkommen. Die Kinder müssen lernen, mit den elterlichen Unzulänglichkeiten umzugehen. "Meine Mutter und mein Vater kommen aus dem Dorf und die haben dort nicht so etwas gesehen ... aber meine kleinen Schwestern dürfen schon mehr, meine Eltern lernen auch ... und dann dürfen wir schon ..." (aus einem Gespräch mit einer 14-jährigen Türkin).

Aufgrund der Doppeldeutigkeit im Werte- und Normensystem bleibt für viele Jugendliche der sogenannten "Zweiten Generation" die Frage der Zugehörigkeit unbeantwortet: "Ich wohne hier in Österreich und bin hier zuhause, aber irgendwie auch in Jugoslawien." (Interview mit einem 16-jährigen Jugoslawen). "Weißt du, ich habe türkische Eltern und bin aber schon Österreicherin ... in der Türkei schäme ich mich, weil da sagen sie Almanci zu mir ... und da schimpfen auch manche ..." (aus einem Gespräch mit einem 15-jährigen Mädchen, deren Eltern aus der Türkei stammen).

* In der herkömmlichen Terminologie werden ausländische Arbeitskräfte als Gastarbeiter bezeichnet. Dieser Ausdruck ist jedoch "etwas" missglückt, da es sich erstens nicht um Gäste handelt und zweitens auch nicht nur um männliche Arbeitnehmer. Die oben angeführte Schreibweise soll dies klarstellen.

Freigang J.: Gastarbeiterkinder und -jugendliche - die sogenannte "Zweite Generation"; in: Schulheft Nr. 26, S. 19; 1982.

IHS-Studie: Ausländische Arbeitskräfte in Österreich, S. 7; 1985.

Freigang

J.: s. o., S. 26.

BMfSV (Hg.): Forschungsbericht aus Sozial- und Arbeitsmarktpolitik Nr. 9, Ausländische Arbeitnehmer in Österreich, S. 138; 1985.

ebenda, S. 137.

In der Türkei werden Gastarbeiter als Almanci bezeichnet (negative Bedeutung).

Weitere verwendete Literatur:
- Hettlage R.: Kulturelle Zwischenwelten, Fremdarbeiter einer Ethnie; Schweizer Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft 2; 1984.
- Stadtschulrat für Wien (Hg.): Ausländische Kinder an öffentlichen Wiener Pflichtschulen, 1989 und 1990.
- Verband Sozialistischer Gemeinde- und Bezirksvertreter in Wien/Rathaus (Hg.): Ausländer Juni 1989.