Segmentalisierung versus Totalität
3. Der Ideologiebegriff der Reinen Rechtslehre
"Ideologie" ist nach Kelsen u.a. dadurch gekennzeichnet, dass sie den Gegenstand der Erkenntnis verhüllt, eine diesen Gegenstand verklärende und entstellende Darstellung beinhalte 13. Nach marxistischer Auffassung spiegelt aber das Recht selbst die ihm zugrunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse in verklärter und entstellter Weise wider. Eine Rechtstheorie, die diesen Umstand außer Acht lässt, reproduziert diesen Makel ihres Untersuchungsgegenstandes 14.
Der verhüllende Charakter des Rechtsverhältnisses im Kapitalismus soll an einem Beispiel erläutert werden:
Nach der von der klassischen bürgerlichen Ökonomie begründeten Arbeitswertlehre besitzt jede Ware einen Doppelcharakter: Einerseits ist sie Gebrauchswert (= Summe der nützlichen Eigenschaften, mit der die Ware menschliche Bedürfnisse irgendwelcher Art befriedigt). Dabei handelt es sich um ein rein qualitatives Element. Werden Waren gegeneinander ausgetauscht, so erweist sich, dass der Gebrauchswert andererseits auch stofflicher Träger des Tauschwertes ist. Allen Waren gemeinsam ist, dass sie Produkte menschlicher Arbeit sind. Die konkrete Form dieser Arbeit ist unterschiedlich (Schuster, Schneider, technischer Zeichner...). Allen diesen Formen ist gemeinsam, dass sie Verausgabung menschlichen Arbeitsvermögens sind. Hirn, Muskel, Nerven müssen betätigt werden. Der Tauschwert einer Ware wird durch das zu ihrer Erzeugung gesellschaftlich notwendige (d.h. wenn jemand langsamer arbeitet, ist sein Produkt natürlich nicht mehr wert) Quantum dieser abstrakten Arbeit bestimmt.
Dieses Wertgesetz wendet Marx auch auf die Arbeitskraft an: Ihr Tauschwert wird - wie der aller anderen Waren - durch das in Waren vergegenständlichte Quantum abstrakter Arbeit bestimmt, das zu ihrer Produktion und Reproduktion nötig ist. (Nötig darf man nicht im Sinne von lebensnotwendig verstehen: Der Umfang der zu befriedigenden Bedürfnisse ist historisch verschieden: Während im vorigen Jahrhundert und heute noch in vielen Entwicklungsländern tatsächlich im Wesentlichen nur die lebensnotwendigen Bedürfnisse befriedigt wurden/werden, sind in den hochentwickelten Industriestaaten kulturelle Bedürfnisse, Alten- und Krankenversorgung... mitumfasst).
Der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft besteht für den Unternehmer darin, dass sie Wert schafft, und zwar eine größere Menge, als zu ihrer Reproduktion notwendig ist. Dieser den Wert der Ware Arbeitskraft umschließende Teil des vom Arbeiter geschaffenen Wertes bildet den Mehrwert, den sich der Unternehmer aneignet. Der Arbeiter arbeitet also nur einen bestimmten Teil des Arbeitstages, um jenen Wert zu schaffen, den er in Form des Lohnes wiedererhält; die restliche Zeit produziert er Mehrwert für den Unternehmer. Diese Erkenntnis hat für alle Gesellschaftsformationen Gültigkeit, die auf Ausbeutung beruhen: der leibeigene Bauer schafft Mehrwert für den Grundherrn, der Sklave für den Sklavenhalter. Die unterschiedliche Erscheinungsform der Ausbeutung verschleiert dies. "Bei der Fronarbeit unterscheiden sich räumlich und zeitlich, handgreiflich sinnlich, die Arbeit des Fröners für sich selbst und seine Zwangsarbeit für den Grundherrn. Bei der Sklavenarbeit erscheint selbst der Teil des Arbeitstages, worin der Sklave nur den Wert seiner eigenen Lebensmittel ersetzt, den er in der Tat also für sich selbst arbeitet, als Arbeit für seinen Meister. Alle seine Arbeit erscheint als unbezahlte Arbeit" 15. Im Kapitalismus dagegen erscheint selbst die Mehrarbeit bezahlt: Den Sklaven und leibeigenen Bauern wird die Mehrarbeit durch außerökonomischen Zwang abgepresst. Der Kapitalismus ist dagegen gerade durch das Fehlen dieser außerökonomischen Gewalt charakterisiert. Der Arbeiter ist "nur" durch ökonomischen Zwang genötigt, seine Arbeitskraft zu verkaufen, im Übrigen aber "frei" (etwa, an wen er/sie verkauft). Die Kauf- und Verkaufsakte erwecken den Anschein, als würde mit der vollen Bezahlung des Wertes der Ware Arbeitskraft die ganze Arbeit - also auch die Mehrarbeit - bezahlt. Dieser falsche Schein ist keineswegs das Ergebnis bewusster Täuschung, sondern in gewisser Weise objektiv und entspringt den realen gesellschaftlichen Verhältnissen selbst: "Stellen wir uns auf den Standpunkt des Arbeiters, der für zwölfstündige Arbeit z.B. das Wertprodukt sechsstündiger Arbeit erhält, sage 3 sh. (shilling, Red.), so ist für ihn in der Tat seine zwölfstündige Arbeit das Kaufmittel der 3 sh. (...). Jeder Wechsel in der Größe des Äquivalents, das er erhält, erscheint ihm daher notwendig als Wechsel im Wert oder Preis seiner zwölf Arbeitsstunden" 16. Der Unternehmer wiederum versucht, alle Waren möglichst billig zu kaufen. Dass sich die Ware Arbeitskraft von allen anderen dadurch unterscheidet, dass sie als einzige in der Lage ist, für ihn Mehrwert zu erzeugen, ist für den Unternehmer in keiner Weise erkennbar.
An diesem Beispiel des Arbeitslohnes sollte gezeigt werden, dass die dem Recht zugrunde liegenden ökonomischen Verhältnisse sich an der Oberfläche und in der Vorstellung der Menschen verschieden - ja sogar gegensätzlich - zu ihrem Wesen darstellen 17. Das Recht baut aber eben auf diesem verkehrten Schein auf und verstärkt ihn dadurch, macht ihn noch undurchschaubarer. So werden etwa auf das ökonomische Verhältnis Lohnarbeit grundsätzlich die gleichen Formen des Vertragsrechtes angewendet wie auf den Austausch beliebiger anderer Waren. Dass der Austausch Lohn gegen Überlassung der Arbeitskraft sich von allen anderen gegenseitigen Verträgen dadurch unterscheidet, dass er die Quelle des Mehrwerts ist, wird dadurch noch mehr verhüllt.
Darüber hinaus ist das Verhältnis Arbeiter-Unternehmer, wie gesagt, durch das Fehlen außerökonomischer Gewalt bzw. rechtlichen Zwanges geprägt. Ein von der Rechtsordnung auf den Arbeiter ausgeübter Zwang ist nicht nur unnötig (der Arbeiter ist ja schon aus anderen Gründen gezwungen, seine Arbeitskraft zu verkaufen), sondern für die Entwicklung des Kapitalismus sogar hinderlich (so wäre etwa die für den Kapitalismus charakteristische rasante Entwicklung einzelner Branchen unmöglich, wenn die dafür benötigten Arbeitskräfte durch die Rechtsordnung an Unternehmer anderer Branchen gekettet wären). Auch darin liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen Kapitalismus einerseits und Feudalismus und Sklavenhaltergesellschaft andererseits, in denen jeweils die ausgebeutete Klasse rechtlich verpflichtet war, zu arbeiten.
Diese rechtliche Gleichbehandlung von Arbeitern und Unternehmern erzeugt die Illusion tatsächlicher Gleichheit 18. Wie oben gezeigt, verbirgt sich aber hinter diesem Schein der Umstand, dass sich der Unternehmer in der Produktion den vom Arbeiter produzierten Mehrwert aneignet. Die Rechtsordnung baut also auch in diesem Punkt auf dem verkehrten Schein der Gleichheit aller Mitglieder dieser Gesellschaft auf.
Daraus folgt: Eine wissenschaftliche Durchdringung des Phänomens "Arbeitsvertrag", wie des Rechts überhaupt, erfordert die Berücksichtigung der Tatsache, dass das Recht auf dem verkehrten Schein ökonomischer Verhältnisse aufbaut, dass das Recht selbst illusionäre Vorstellungen erzeugt. Eine Rechtstheorie, die sich dem gegenüber auf den normativen Gehalt des Rechts beschränkt, reproduziert zwangsläufig diesen verkehrten Schein. Zusammenfassung: In Abschnitt 2. wurde herausgearbeitet, dass der Kern der Auseinandersetzung zwischen marxistischer und positivistischer Rechtstheorie darin liegt, dass erstere wissenschaftliche Erkenntnis aus dem Gesamtzusammenhang, letztere aber durch Segmentierung in Einzeldisziplinen anstrebt. Gegen das positivistische Konzept wurden folgende Argumente vorgebracht:
1.) Die Reine Rechtslehre begründet nicht, warum die - unbestrittene - formallogische Unableitbarkeit von Sollens- aus Seinssätzen den zentralen Stellenwert in der Rechtswissenschaft haben soll.
2.) Eine strikte Trennung zwischen Seins- und Sollenssätzen entspricht nicht dem realen Erkenntnisprozess, in dem erkennende und wertende Elemente aufs Engste verknüpft sind und beide Elemente durch das gesellschaftliche Umfeld letztlich determiniert werden.
3.) Durch die Selbstbeschränkung der Reinen Rechtslehre blendet diese wesentliche Zusammenhänge aus, wodurch z.B. die Entstehung der Gesetze zum Mysterium wird. Zerlegt man die gesellschaftliche Totalität in isolierte Untersuchungsgegenstände, dann ergibt eben auch die Aneinanderreihung der so gewonnenen Ergebnisse kein vollständiges Bild der Wirklichkeit.
4.) Die Vorgehensweise der Reinen Rechtslehre ist auch deshalb inadäquat, weil in klassengesellschaftlichen Gesellschaften das Recht selbst die ihm zugrunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse in verklärter und entstellter Weise widerspiegelt (vgl. Abschnitt 3).
Das Herangehen Kelsens an die Rechtswissenschaft wird nur dann verständlich, wenn man berücksichtigt, dass Kelsen in der Tradition der Kant'schen (und damit der idealistischen) Philosophie steht. So wie Kant Möglichkeiten und Grenzen gesicherter Erkenntnis zu ergründen sucht, will Kelsen eine allgemeingültige, von metarechtlichen Autoritäten (Gott, Natur etc.) befreite Theorie des Sollens aufstellen. Kelsen ist daher geradezu gezwungen, alle gesellschaftlichen und geschichtlichen Bezüge auszublenden. Ihn interessiert ja nur das, was allen Rechtsordnungen gemeinsam ist, und nicht, warum eine konkrete Rechtsordnung so und nicht anders gestaltet ist. Da der Inhalt einer Rechtsordnung bestimmt wird von den grundlegenden Interessen der ökonomisch und politisch herrschenden Klasse, besteht die Gemeinsamkeit aller Rechtsordnungen wirklich nur im Formalen, eben dass jede Rechtsnorm gesollt ist. So kommt das triviale logische Gesetz, dass aus dem Sein kein Sollen folgt (und umgekehrt) zu ungeahnten Ehren: Es wird zum zentralen Element der Kelsen'schen Rechtstheorie.
Dieser zentrale Stellenwert der Unableitbarkeit von Sollens- aus Seinssätzen ist aber - wie gezeigt - dem kantianischen Ausgangspunkt Kelsens zuzuschreiben. Kelsen sagt daher über das reale Recht wenig aus. Das Wesen des Rechts ist ja gerade durch seinen Zusammenhang mit der geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung geprägt, jene Elemente, die Kelsen schon von seinem Ausgangspunkt her ausklammert. Die Reine Rechtslehre gerät somit zum reinen Gedankengebäude, das viel über die kantianische Geisteshaltung ihres Schöpfers, aber wenig über das Recht aussagt.
4. Ist ideologiefreie Erkenntnis möglich?
Der - ausschließlich im abwertenden Sinn verwendete - Ideologiebegriff der Reinen Rechtslehre meint eine von Werturteilen beeinflusste, den Erkenntnisgegenstand (bewusst) entstellende Widerspiegelung der Wirklichkeit. Wie oben gezeigt (vgl. 3.), erscheinen im Kapitalismus wesentliche ökonomische Zusammenhänge an ihrer Oberfläche in verkehrter Weise. Wie weit diese ökonomischen Zusammenhänge trotzdem richtig erfasst werden können, hängt nicht in erster Linie von der wissenschaftlichen Redlichkeit - dem Willen, zu täuschen oder aber objektiv widerzuspiegeln - ab, sondern von den auch die Erkenntnistätigkeit letztlich bestimmenden ökonomischen Interessen. Interessen beeinflussen die Auswahl des Erkenntnisgegenstandes, die Verwertung der Ergebnisse, aber auch den Inhalt der Erkenntnisse selbst. So interessiert den Unternehmer "nicht Ursprung, Wesen von Ausbeutung, Mehrwert und Profit, sondern die Vergrößerung des Profits." 19. Nach marxistischer Auffassung sind ökonomische Interessen notwendige, nicht auszuschließende Determinanten menschlicher Erkenntnisprozesse 20.
Der Marxist setzt sich daher umfassender mit anderen Theorien auseinander als der Rechtspositivist: "Er weist nicht einfach 'das Falsche' dieser Positionen nach, sondern erklärt das Entstehen dieser wissenschaftlichen Positionen wiederum aus den geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenhängen" 21 22. Auch die Reine Rechtslehre wird so in Zusammenhang mit ökonomischen Interessen gebracht (vgl. unten 5. - JURIDIKUM 4/90) 23. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die "Ideologiefreiheit" als eine spezifisch bürgerliche Form der Ideologie.
- 13. Vgl. etwa H. Kelsen, Die Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 111
- 14. Dass die Reine Rechtslehre ihren Untersuchungsgegenstand nur in inadäquater Weise erfasst, wird besonders deutlich, wenn man nicht den Kapitalismus in seiner demokratischen Ausprägung, sondern den Faschismus vor Augen hat. Beschreibt man nur das Recht des Faschismus, ohne zu berücksichtigen, dass dieses systematisch gebeugt, gebrochen, unter Berufung auf das "Rechtsempfinden" und den "Führerwillen" vielfach uminterpretiert wurde etc., dann erzeugt man ein entstelltes Bild des Faschismus.
- 15. K. Marx, Das Kapital, Bd. 1, in MEW 23, S. 562
- 16. a.a.O. (FN 15), S. 563
- 17. Vgl. auch Wittich/Gössler/Wagner, Marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie, Berlin DDR 1980, S. 367; sowie MEW 25/219
- 18. Vgl. MEW 23/562
- 19. a.a.O. (FN 17), S. 369
- 20. a.a.O. (FN 17), S. 354
- 21. Dort, wo die Reine Rechtslehre ihre tiefgehendsten Erkenntnisse hervorgebracht hat, nähert sie sich dem marxistischen Ideologiebegriff an und entfernt sich gleichzeitig von ihrem eigenen: So etwa, wenn Kelsen den "ideologischen Charakter des Dualismus von öffentlichem und privatem Recht" untersucht. Kann man diese ideologische Verschleierung wirklich der Verhüllungsabsicht ihrer Schöpfer zuschreiben? Oder entsteht sie auf der Basis kapitalistischer Verhältnisse und vom Unternehmerstandpunkt aus betrachtet nicht vielmehr notwendigerweise? Der Konkurrenzkapitalismus beruht darauf, dass die Rechtsordnung nicht in die Ökonomie eingreift. Das Wirtschaftsleben und das dieses regelnde Privatrecht scheinen von Natur aus vorgegeben; öffentlich-rechtliche Normen greifen in diese natur- und gottgewollte Ordnung störend ein. Nur dieser Bereich erscheint als politischer, als Ausübung von Herrschaft. Der von Kelsen zutreffend kritisierte Dualismus ist vor diesem Hintergrund als ideologisches Konstrukt bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse erklärbar.
- 22. a.a.O. (FN 7), S. 113f
- 23. Darin liegt kein Vorwurf der Unredlichkeit. In einer klassengespaltenen Gesellschaft produziert auch - und gerade - ein Theoretiker, der sich dessen nicht bewusst ist, Ideologie.