Die Abkommen von Schengen

Unter dem schönen Begriff "Freizügigkeit" basteln einige EG-Länder an einem einheitlichen europäischen Polizeistaat: Abschottung gegen Ausländer, ein gigantischer Datenspeicher, "Nacheilerecht" für Eurocops - das sind nur einige Schlagworte. Ein Bericht von der Festung Europa.
"Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen". Dies ist der frohe Zeiten verheißende Titel des "Schengener Abkommens"*, benannt nach dem kleinen Ort in Luxemburg, an welchem es am 14. Juni 1985 geschlossen wurde. Auch in der Präambel steht nur Wohlklingendes: Die "immer engere Union zwischen den Völkern" der EG-Staaten müsse ihren Ausdruck "im freien Überschreiten der

Binnengrenzen durch alle Angehörigen der Mitgliedstaaten und im freien Waren- und Dienstleistungsverkehr finden" und das Abkommen diene dem "Bestreben, die Solidarität zwischen ihren Völkern" zu verstärken. Endziel sei die Abschaffung der Grenzkontrollen für alle Angehörigen der EG-Mitgliedstaaten. Bereits einen Tag nach der Unterzeichnung wurden an den Binnengrenzen der fünf Vertragsstaaten die Kontrollen gelockert. Welcher freiheitlich gesinnte Europäer hätte dagegen etwas einwenden wollen? Nur wer den eigentlichen Abkommenstext genau durchlas, konnte schon damals ahnen, was mit dem Schengener Abkommen wirklich geplant ist: der Aufbau eines europäischen Sicherheits- und Geheimstaates, mit einer jeder ernstzunehmenden rechtlichen und parlamentarischen Kontrolle entzogenen polizeilich-administrativen Exekutivmacht. Geschickt wurde die besonders für die Wirtschaft verlockende Aufhebung der Binnengrenzen zwischen den Vertragsstaaten (VS) mit einem Paket von Bestimmungen zur "inneren Sicherheit" gekoppelt, welche die Grund- und Freiheitsrechte aller Bewohner Europas bedrohen. Begründet wurde dies damit, dass der angebliche Verlust an "innerer Sicherheit" durch den Wegfall der Binnengrenzkontrollen irgendwie ausgeglichen werden müsse. So verpflichten sich bereits im Abkommen vom Juni 1985 die VS noch recht allgemein dazu, die "Zusammenarbeit zwischen ihren Zoll- und Polizeibehörden insbesondere im Kampf gegen die Kriminalität" zu verstärken. Was diese verstärkte "polizeiliche Zusammenarbeit" wirklich bedeutet, wurde erst in den auf den Abschluss des Abkommens folgenden Jahren bekannt, als dank einer inzwischen gestopften "undichten Stelle" bruchstückweise Informationen über die Arbeiten der zahlreichen geheim tagenden Expertenkommissionen ans Tageslicht kamen. Aufgabe der Kommissionen ist es, die im ersten Schengener Abkommen enthaltenen Absichtserklärungen und Zielvorstellungen zu konkreten, für die VS bindenden Normen auszugestalten, die Teil des definitiven Schengener Vertragswerkes sein sollen. Dieses soll in mehreren Schritten bis frühestens 1992 unterzeichnet und von den nationalen Parlamenten der VS ratifiziert werden. Aus publik gewordenen Dokumenten*) geht die wahre Zielsetzung hervor:

Bild 3: NacheilerechtDie geplante sicherheitspolitische Aufrüstung richtet sich in erster Linie gegen Ausländer. "Ausländer" ist laut dem "Vorentwurf für eine Vertragsregelung" vom 14. 9. 1988 (im folgenden VV genannt) "jede Person, die kein Angehöriger der Vertragsstaaten ist", also auch die Bürger der EG-Staaten, die dem Schengener Abkommen nicht angehören, sowie der EFTA-Staaten. Einem Ausländer soll die Einreise und der Aufenthalt auf dem gesamten Gebiet der VS nur dann gestattet werden, wenn er "nicht im Verdacht" steht, eine "Gefahr für die öffentliche Ordnung, die nationale Sicherheit oder die internationalen Beziehungen eines der Vertragsstaaten zu sein" (Art. 4 VV). Die verstärkte Kontrolle und Bewachung an den Außengrenzen des Schengener Territoriums beinhaltet laut Art. 5 VV Maßregeln, "die allein zum Zweck aufgestellt worden sind, die öffentlichen Belange auch nur eines der Vertragsstaaten zu schützen." Wann ist der Verdacht (!) einer Gefahr für die "öffentliche Ordnung", die "nationale Sicherheit" oder - noch unverbindlicher - die "internationalen Beziehungen" und die "öffentlichen Belange" gegeben? Wann ist ein Ausländer als unerwünscht anzusehen? Dies werden willkürlich und geheim die koordinierten polizeilich-administrativen Exekutivorgane der VS entscheiden. Von einer Begründungspflicht für Zwangsmaßnahmen ist nicht die Rede, geschweige denn von einer unabhängigen rechtlichen Überprüfung. Die genannten Bestimmungen ermöglichen die Entfernung jedes irgendwie "missliebigen" Ausländers aus dem gesamten Gebiet der Schengener VS, wenn er von den Sicherheitsbehörden auch nur eines einzigen VS für störend angesehen wird. Damit führt das Schengener Abkommen zu einer Kumulierung willkürlicher Entscheidungskriterien der nationalen Sicherheitsbehörden und Geheimdienste aller VS. Wozu dies in Zukunft führen kann, sei an einem erfundenen Beispiel erläutert: Der österreichische Staatsbürger Toni K. hat sich vor ein paar Jahren an einer friedlichen Protestdemonstration gegen das inzwischen begrabene Projekt einer nuklearen Wiederaufbereitungsanlage im bayrischen Wackersdorf in der benachbarten BRD beteiligt. Dabei geriet er in eine Personenkontrolle der deutschen Polizei. Sein Name wurde in die Datei der deutschen Polizei gespeichert, da er als zum "Umfeld potentiell gewalttätiger Atomkraftgegner" zugehörig eingestuft wurde. Die bundesdeutschen Sicherheitsbehörden verdächtigen ihn von da an, die öffentliche Ordnung zu gefährden. Jahre später will Toni K. mit seiner Familie in den Urlaub an der französischen Côte d'Azur reisen. Am französischen Zoll bei Genf (Außengrenze der Schengener VS) wird sein Pass kontrolliert. Die Einreise wird ihm verweigert, denn eine Anfrage beim "Schengen Informations System" (SIS), dem "On-line"-Verbund sämtlicher Polizeidaten der VS ergibt, dass ihm kein Zutritt zum Gebiet der Schengener Staaten gewährt werden darf. Dieses Beispiel mag heute noch an den Haaren herbeigezogen scheinen. Doch man sollte sich davor hüten, die Gefahr, die von willkürlich auslegbaren Generalklauseln ausgeht, mit dem oft gehörten Argument herunterzuspielen. Man dürfe darauf vertrauen, dass die Behörden eines demokratischen Staates auch weitgefasste Bestimmungen schon "richtig" anwenden würden. Die präzise normative Definition eines verbotenen Verhaltens als Voraussetzung jeder Zwangsmaßnahme ist das Fundament des freiheitlichen Rechtsstaates. Wer die Einführung von Generalklauselbestimmungen zulässt und erst noch den Rechtsweg ausschließt, öffnet der Willkür Tür und Tor. Generalklauseln sind dazu da, "gegebenenfalls" auch benützt zu werden. Dies zeigt schon die Anlage des SIS. Das Dateispeichersystem soll in einer ersten Phase 880.000 Personen erfassen und nach Vorstellung der bundesrepublikanischen Sicherheitsbehörden auf 5,5 Millionen Personen erweitert werden. Erfasst werden sollen wohlgemerkt nicht nur gesuchte Straftäter (wie bei INTERPOL), sondern auch die auf dem Gebiet der VS unerwünschten Ausländer, allen voran Asylbewerber, deren Gesuch in einem VS abgelehnt worden ist. Dazu kommen aber noch die sogenannten "Personen mit Vorgängen". Das sind Ausländer, aber auch Bürger der Schengener VS, deren Verhalten oder Lebensweise einer Sicherheitsbehörde aus irgendeinem Grund als beobachtungswürdig erscheint. Was dies bedeuten kann, zeigen die Erfahrungen mit der bundesdeutschen Terrorismusdatei APIS. APIS ist offen für sämtliche "Vorgänge" mit vermutetem politischem Hintergrund. Ziel ist die präventive ''umfassende Vorfeldaufklärung", also die Ausforschung und "Begleitung" selbst von Personen, die nicht der geringsten Straftat verdächtigt werden. APIS wurde 1986 in Betrieb genommen. Ein Jahr danach waren darin bereits 29.000 Personen, 5.700 Organisationen und 83.000 Vorgänge gespeichert. Erfasst wurden zum Beispiel zahlreiche Gegner der Volkszählung von 1987 in der BRD. So kam ein hessischer Bürger in die Terroristendatei, weil er auf eine Mauer den Spruch gesprüht hatte: "Nur Schafe lassen sich zählen." Der APIS-Computer steht in Wiesbaden, dem Sitz des Bundeskriminalamtes BKA (deutsches PBI) und soll Teil des SIS "On-line"-Verbundes werden. Wohl in Anerkennung der polizeilich-technologischen Pionierleistungen der Deutschen soll neuesten, noch nicht offiziellen Meldungen zufolge, auch das SIS seinen Sitz in Wiesbaden haben, womit die hessische Stadt zur geheimen Hauptstadt des Europas der Polizeien aufsteigen dürfte. Es fehlt hier der Raum für eine systematische Darstellung aller Aspekte der Schengener Verhandlungen. Erwähnt sei die Abschottung gegen Asylsuchende und die· massive Einschränkung der Reisefreiheit für Bürger der Drittweltstaaten durch die Einführung einer harmonisierten Asyl- und Visumpraxis auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Menschenrechte, sowie das polizeiliche "Nacheilerecht", das den Polizeien der einzelnen VS erlaubt, auch über ihre Binnengrenzen hinaus auf dem Gebiet der VS zu verfolgen. Heute geht es uns darum aufzuzeigen, dass die "Sicherheitspolitik" von Schengen und einer ganzen Reihe paralleler Bestrebungen (TREVI, Berner Club, Wiener Club, und eine kaum überblickbare Zahl "informeller" Gesprächsrunden und "ad hoc"-Kommissionen) sich entgegen einer weitverbreiteten Meinung keineswegs "nur" gegen Einwanderer und Flüchtlinge aus Drittweltstaaten richtet, sondern gegen die Freiheit eines jeden "andersdenkenden" Bürgers Europas. Das angebliche Ziel der Bekämpfung des Drogenhandels, des Terrorismus und der unerwünschten Einwanderung ist nur der medienwirksame Vorwand, um vor einer verunsicherten Öffentlichkeit die Einführung eines sicherheitsstaatlichen Systems der Oppositionsbekämpfung zu rechtfertigen, das mit rechtsstaatlichen Argumenten nicht zu vertreten ist und das in seiner Tragweite eher auf die Bedürfnisse von autoritären, mit Volksaufständen konfrontierten Drittweltregimes zugeschnitten scheint. Auf ein gestörtes Verhältnis zu demokratischer europäischer Solidarität lässt auch die Vorgangsweise der beiden EG-Führungsmächte BRD und Frankreich schließen, die die restlichen EG-Staaten diskriminiert. Im Alleingang (die Benelux-Länder wurden wohl nur aus geopolitischen Gründen miteinbezogen) werden mit dem Schengener Prozess wichtigste politische Weichenstellungen für die Zukunft Europas vorweggenommen, unter Ausschluss der "Fußvolk"-Staaten. Diese wird man vor die Wahl stellen, dem Schengener Vertragswerk, wenn es einmal steht, ohne Wenn und Aber beizutreten und sich damit dem sicherheitspolitischen Diktat der großen Brüder zu beugen oder aber draußen zu bleiben, wirtschaftlich und politisch diskriminiert wie Drittweltstaaten. Die vielbesungene europäische Einheit droht durch Erpressung und Geheimpolitik zustande zu kommen. Die Völker Osteuropas verlangen "Glasnost". Und wir?

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Mitte Dezember des vergangenen Jahres versetzten die Deutschen den Schengener Verhandlungen allerdings eine schweren Rückschlag: Buchstäblich von einem Tag zum anderen weigerten sie sich, den endgültigen Vertrag über die Beseitigung der Binnengrenzen zwischen den VS zu unterzeichnen. Der BRD-Unterhändler Lutz Stavenhagen teilte am 14. Dezember seinen Verhandlungspartnern in Schengen mit, dass die BRD an dem für den 15. Dezember geplanten Vertragsabschluss nicht teilnehmen könne, bevor sie" die Konsequenzen der Öffnung der innerdeutschen Grenze" abgeschätzt habe - außerdem müsse man erst die weitere Entwicklung in der DDR abwarten. Tatsächlich geht es natürlich um die Frage der Wiedervereinigung und speziell darum, dass durch die Schengener Verhandlungsergebnisse die deutsch-deutsche Grenze zur "Außengrenze" Europas werden könnte. Die BRD schreckte vor allem vor einer solchen Festlegung kurzfristig zurück.
Aber auch andere Staaten bringen die Konkretisierung der Verhandlungen ins Stocken. In den meisten Fällen geht es dabei um steuerliche Probleme. Allein die Niederländer gaben bekannt, dass sie bei einem Vertragsabschluss auch wegen des undemokratischen und geheimen Charakters der Verhandlungen und wegen der zu geringen Garantien für Asylwerber zögern. (Red.).

 

  • *. Schengener Abkommen vom 14.6.1985; Übereinkommen von Schengen: Vorentwurf für eine Vertragsregelung vom 14. 9. 1988;
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