Der Minus-Mann

Unter meinen Händen zerbricht wieder ein Mensch, ist zerquetscht, leblos. Atemzüge scheuern an den Rippen, reißen blutige Höhlen. Ohne Freude halte ich einen verlaufenen Tag noch ein wenig fest. Granit mahlt im Gehirn. Keine Angst ist da und keine Geduld. Das Glück stirbt in jedem Augenblick. Die Vergangenheit sucht ihre Spiele.

Der Realitäten gibt es viele. Der Mensch in ewiger Sehnsucht nach Sicherheit und Greifbarem errichtet sich seine Grenzen, seinen Horizont selbst. Er übersieht, dass die Widersprüche des Lebens keine Rücksicht auf Normen und Sehnsüchte nehmen. Der Weg ist steinig genug, die Grenze der Toleranz viel zu schnell gefordert und gefunden. Das Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit bitter. So trägt jeder eine Idee der Welt mit sich herum, als Summe seiner selbst. Als Kompromiss mit der eigenen Begrenztheit, die getarnt als Toleranz im Keller der verbannten Notwendigkeiten herumschleicht. Im grellen Licht der Sonne, wo die Klarheit der Überforderung das Sehvermögen vernichtet, wird die nackte Schalheit der eigenen Zweidimensionalität umso schmerzlicher bewusst. Es gibt keine Antwort. Die Sünde ist der Schein und die Idee der Sicherheit verhindert den Zusammenbruch. Der Ausweg liegt im Eingeständnis und die Hoffnung begraben. Die Anmaßung, die eigene Realität zur Spielregel zu erheben, sucht nach Rechtfertigung, wird fündig bei den Karikaturen ihrer selbst, jenen die dafür büßen müssen, eine Lüge so schamlos zu entlarven. Schmal sind die entwürdigenden Pfade eines entmenschten Systems, wer sich nicht eignet für diffizile Spaziergänge, landet in kafkaesker Tiefe. Umso unerlässlicher ist es für die Protagonisten dieses Systems, zu wissen, warum Menschen stolpern, wie und wo sie dies tun. Ob es ausreichend sein kann, Menschen mit konträrem sozialem Hintergrund auf Tatbestand und Rechtsfolge zu reduzieren, erscheint zweifelhaft; dass Richter mit dem umfassenden Hintergrundwissen des Wahlfaches Psychologie geeignet sind, über äußerst komplexe, widersprüchliche Lebensweisen abzusprechen, gleichfalls. Keine Frage, es wäre erfreulich, würden sich die Studenten bereits während des Studiums von Tatbeständen und Rechtsfolgen mit den diffizilen Hintergründen der Tatbestände beschäftigen. Umfangreiche Unterweltsstudien würden den Lehrplan lebensnaher gestalten. Doch so weit muss man gar nicht gehen. Um sich in seinem Verständnis für soziale Hintergründe zu überfordern, genügt es auch, den "Minusmann" zu lesen.

Die kurze Inhaltsbeschreibung auf der Rückseite des Buches hält jeder nachträglichen Kontrolle stand: "Dieses Buch ist der schonungslose, atemverschlagende Lebensbericht eines Mannes, der als Zuhälter und Gewalttäter gelebt hat, der ein exzessiver Trinker und gefürchteter Schläger war, ein Mann tief gespalten in seiner Beziehung zu Frauen, voller Hass und Selbsthass."

Wichtiges Zeugnis
"Das Buch wurde in einem Zuchthaus in Marseille geschrieben. Es ist ein wichtiges Zeugnis von der Nachtseite unserer Gesellschaft, das unsere Kenntnis vom Menschen bestürzend erweitert. Ein Buch über Gewalt und Gegengewalt." Mit Sicherheit ist das Gefängnis kein Ort poetischer Selbstverwirklichung. Dieses Buch ist ein tonloser Schrei, der Versuch, die eigene Existenz zumindest zu beschreiben. Es macht es einem schwer. Zweifellos befriedigt es sensationsgeile Gemüter, die nun erfahren, was sie ohnehin schon immer gewusst haben. Einzig, dass es so schlimm ist, konnten sie nicht ahnen. "Es gibt höllische Szenen in diesem Buch: brutale, tödliche Schlägereien unter Zuhältern, die Folterung eines Mädchens, das als Dirne abgerichtet wird, die Vergewaltigung eines jungen Gefangenen durch die Zellenbelegschaft - so nackt, so direkt ist das noch nie beschrieben worden, ohne Selbstmitleid, ohne jede Beschönigung und ohne jeden Versuch der Rechtfertigung." Wäre dieses Buch kein Tatsachenbericht, hätte man noch die Möglichkeit, es als auflagensteigernden Schundroman zu betrachten. Doch ein solcher ist es keinesfalls. Dies macht auch eine Aufarbeitung nahezu unmöglich. Man stößt an die Grenzen des eigenen humanen Verständnisses. Heinz Sobota (der Minusmann) lässt einem keine Chance, sich dieses Leben auf irgendeine Weise zu erklären. Die Kindheit endet auf Seite 20 (von 352 Seiten) und lässt einen ansatzweise ahnen, dass hier die Wurzel liegen muss. "Ich habe nicht oft geweint und wenn, dann lautlos und in der Nacht. Mein Vater, der Mann in dem Haus da drüben, hat immer gesagt: "Du hast nicht zu heulen, oder du bist ein Mädchen, prügel dich, und bevor du zu heulen beginnst, schlag lieber noch einmal hin, klar!" Ich merkte es mir, manchmal war es mir schwergefallen. Bei den Ohrfeigen und Prügeln, die ich von ihm bekam. Ich habe die Tränen eben hinuntergewürgt, weinte nie, nur manchmal - nachts, leise, allein. Der Weg ins Gefängnis erscheint logisch und vorgezeichnet Mit zwölf nannten sie mich einen potentiellen Mörder.

Abartiger Psychopath
Mit vierzehn einen irreparablen, schwer abartigen Psychopathen. Mit siebzehn einen pathologischen Säufer und mit neunzehn einen permanent Suizidsüchtigen und asozialen Neurotiker. Die Gutachten über mich füllten Hunderte von Seiten. Meine Eltern hielten sie vor mir verschlossen. Nur einmal, mit vierzehn, habe ich eines gelesen. Die Aufzählung meiner Persönlichkeitsmerkmale verursachen in mir so etwas wie perversen Stolz. Ich fragte auch meinen Vater. Er holte zu einer großen Erklärung aus, dann verfinsterte sich sein Gesicht. "In dir kommt der Dreck aller unserer Generationen zum Ausdruck", sagte er kurz. Ich verschloss es in mir und war auch darauf stolz. Meine Überlegungen, ihn umzubringen, schienen mir von da ab ganz und gar berechtigt." Sein Leben in Unfreiheit beginnt sehr früh, wenn man die Kloster- und Internatsjahre hinzurechnet, die sich als doppelmoralische Folge seiner ersten sexuellen Gehversuche mit einer gleichaltrigen Zwölfjährigen ergeben. Die Prophezeiungen erfüllen sich und knapp fünfzehnjährig verübt er einen Einbruch. Neun Monate Arrest sind die Folge. "Ein Verbrecher gehört eingesperrt", sagt sein Vater. Er flüchtet nach Frankreich zur Fremdenlegion und landet im Gefängnis; wegen Landstreicherei. Abschiebung nach Österreich, Jugendstrafanstalt Wien, Hardtmuthgasse. "Es ist Frühjahr 1961. Schnüre in Preisschildchen einziehen, eintausendsechshundert Stück am Tag, das Pensum. Wöchentlich einmal kommt der Psychologe und führt Aufbaugespräche mit mir. Manchmal kommt Mutter, Vater nie. Später werde ich in die Anstaltsbibliothek transferiert. Ernst Zahn und Sven Hedin in hunderten Exemplaren, die Borgia-Trilogie darf nicht ausgegeben werden, ist Pornographie. Der Direktor heißt Sagl, und Hände in die Hosentaschen zu stecken bei beißender Kälte bringt drei Tage Absonderung in einer Einzelzelle im Keller mit Betonfußboden und sonst nichts darin. Die Beamten schlagen die Häftlinge mit dem Gummiknüppel und manchmal mit der Faust. Dann kommt Herr Elmayer und lehrt die Häftlinge gutes Benehmen und aus welchen Gläsern Rotwein und aus welchen Sekt getrunken wird. Streitereien und Prügel, selten Samstagnachmittag dreißig Minuten Tischtennis vor der Gitterwand am schmalen Plateau neben dem Dienstzimmer der Etagen. "Moch des, oda du kriegst ane in die Goschn," sagen die Beamten, und dann werde ich entlassen. "Knapp achtzehnjährig versucht Sobota, seinen Vater umzubringen. Der Versuch, ihn mit einem Fleischhammer zu erschlagen, scheitert, und Sobota kommt für ein Jahr ins Gefängnis. Jugendgerichtshof, Rüdengasse, 3. Wiener Gemeindebezirk": Dann beginnt das Verhör. Nach jeder Frage des Inspektors schlägt einer der beiden gegen den Kopf oder die Seite des Jungen. "Du Scheißhund, an Vatern umbringen woin, und daun nix reden ano, i wer da geben." Der Gendarmeriewachmann schlägt mit rotem Kopf auf den Jungen ein, zwischendurch auch der andere. Der Junge schweigt. Er hängt im Sessel, man sieht, er kann sich nicht mehr aufrecht halten. Drei Stunden betreiben die Beamten dieses Verhör, dann geben sie vorläufig auf. "Er hört ja nicht einmal zu dieser Dreckhund", sagt keuchend der Patrouillenleiter und wischt sich die glänzende Stirne. Er ist beim Prügeln ins Schwitzen geraten." Nach der Entlassung kommt er auf Anraten seines Psychologen und Wunsch seines Vaters zum Militär. Lässt sich nur hoffen, dass die Psychologen dieser Tage den Sinn ihrer Ausbildung wenigstens erahnen. Es kommt zur erwarteten Flucht Desertation, Raub eines Autos.

Das Urteil
Das Urteil: 4 Jahre schwerer Kerker und vierteljährlich hartes Lager. Strafanstalt Graz Karlau 1963: Sobota ist 19: Ob die juristisch verfärbte Phantasie eines Durchschnittsrichters ausreicht, die Brutalität des ganz normalen Gefängnisalltags zu erfassen, bleibt zu bezweifeln. Sobota ist penibel in der Beschreibung der entsetzlichsten, grausamsten Gefängnisszenen. Zum späteren Verständnis, der Konsequenzen einer Freiheitsstrafe, ist dieses Buch Pflicht. In dieser Welt gibt es keine Tabu. Sexualität ist Prinzip. Sie ist Mittel zur Macht und hat wie alles Übrige, abgesehen von Hass, nichts mit Gefühlen zu tun. Da ist aber noch etwas in der Zelle. Schräg mir gegenüber liegt Gianni, ein Südtiroler. Er hat drei Jahre abzubüßen. Vor einigen Tagen ist er in diese Zelle verlegt worden. Alle haben ihn beobachtet wie das eben bei einem, der neu kommt, üblich ist. Dann erst ist er angesprochen worden. Er ist sechzehn, hat ein weiches Gesicht, keinen Bartflaum und dichtes, gelocktes Haar. Seine Bewegungen sind langsam, fast aufreizend feminin. Wenn ich ihm eine Weile zusehe, klopft mir das Blut hinter den Augen. Und nicht nur mir, die anderen sehen ihn ebenso an. Im Dunkeln liegen. Hier liegen, diese verrottete Atmosphäre atmen und warten und nichts tun können. Wie oft habe ich mir schon gesagt: "Nimm dir auch so ein Spielzeug ins Bett." Da sind Buben, die sehen aus wie ein Engel, glatte Haut ... Vielleicht würde dann die Aggressivität verschwinden. Scheiße - verfluchte vermaledeite Scheiße, Geilheit und Dreck und Verzweiflung. Ich habe keine Worte dafür, nicht einmal für mich."
Es folgt ein Selbstmordversuch mit dem Sinn, aus dieser Anstalt verlegt zu werden. Nächste Etappe ist Stein, in der Wachau, eines der berüchtigtsten Gefängnisse Österreichs. Keine Frage, dass der Alltagswahnsinn nur erträglich wird, indem Sobota die Reste seiner Menschlichkeit aufgibt und sich dem Überleben widmet. Nur eine erwürgte tote Seele, die sich in puren Zynismus verwandelt hat, lässt ihn den Horror ertragen. "Nicht zum Glauben wos fia a scheenes Herz so a Rozz hot", sagt Vickerl zu mir. Vickerl ist zivilberuflich Zuhälter und Totschläger. Er klebt keine Tüten. Er bekommt beim Besuch regelmäßig Geld. Er lässt andere für sich arbeiten. Er ist leidenschaftlicher Anatom. Vom Keller hat er eine Ratte bekommen. Mit vier Nägeln hat er begonnen sie aufzuschneiden, die Ratte ist inzwischen verschieden. Vickerl ist bereits bei den Innereien. Peter steht am Fenster. Er kann so etwas nicht sehen. Peter ist sensibel. Er hat elf Jahre wegen Doppeltotschlags. Vickerl setzt fort mit der Sezierung. "Waun i hamkumm und mei Oide weist net gnua Koin auf, moch is mit ihr genaua so", sagt er.
Die Reflexion der eigenen Person und Situation muss zugunsten des Überlebens gering bleiben, dennoch leistet er sich auch den Luxus, seine Verzweiflung zu artikulieren und die Entmenschung in Frage zu stellen. "Einsperren – die Hauptsache. Was hinter den Mauern geschieht, ist euch egal. Ob da nicht eines Tages eine bittere Rechnung präsentiert wird. Die Möglichkeit zu onanieren oder knastschwul zu werden, wird eines Tages nicht mehr ausreichen. Was dann, die Mauern noch höher, die Strafen noch länger? Die Einschnürung noch enger - oder ausweichen in die Möglichkeit der medikamentösen Manipulation? An manchen Tagen ist eine allgemeine Aggressivität spürbar, zerbricht aber wie immer am täglichen Zwang."

Wie lange noch?
Der Sinn, falls es ihn gibt, wird völlig verfehlt - und die Brechung des Rückgrades oberstes Gebot. Alles zum Schutze einer Gesellschaft, die sich genau dadurch selbst vernichtet. "Diesen Monat fällt die Entscheidung, ob mir das letzte Drittel der Strafe bedingt auf drei Jahre erlassen wird. Ein Richtersenat wird Ende des Monats darüber entscheiden. Ich habe zwei Vorstrafen, Einbruch und die Sache mit meinem Vater, und bin einundzwanzig Jahre alt. Abgelehnt. Begründung: Wegen kriminellen Vorlebens ist ein Wohlverhalten in Freiheit nicht zu erwarten. Welches Vorleben? Ich habe viereinhalb Jahre Gefängnis hinter mir und war sechs Jahre in Internaten und Erziehungsheimen, wann hatte ich schon Zeit gehabt zu leben, es ist sinnlos, sie sind stärker, sie drücken dich mit der Schnauze in den Dreck, bis du nicht mehr atmen kannst, bis dir die Scheiße aus den Ohren quillt. Viele Tage gehe ich bedrückt umher. Schweigen wird mir Gewohnheit." Dort, wo er noch nicht zur Gänze zerbrochen ist, wird staatlicherseits nachgeholfen, natürliches menschliches Verhalten zum aufrührerischen Verbrechen erklärt und dementsprechend bestraft. "10 Tage Einzelhaft". Der vierte Tag. Fasttag. Das Brot ist speckig. Ungelenk und steif schiebe ich den Strohsack durch die Öffnung im Gitter. Dann Schlüssel klirrend sperrend. Der Tag kriecht in mich. Gehen und zählen. Mit dem Fingernagel ritze ich Sätze in die Wand. Ich bin gleichgültig, stumpf. Fünf Schritte, Wand - fünf Schritte, Gitter, ein Versuch, unter den Füßen Zeit zu zertreten. Blechschalen fallen am Gang zu Boden. Undeutlich höre ich Stimmen vor der Zelle. "Es regnet sehr stark", sagt der Beamte, der Faltige. Ich kenne seine Stimme. Wo regnet es? In einem anderen Leben. Mit Menschen und Regenschirmen und hellem Lachen in warmen Räumen."
Nach insgesamt fünfeinhalb Jahren Zuchthaus wird Sobota entlassen und er setzt fort, was er Jahre hindurch gelernt hat. Brutalität und Gewalt. Das Buch beginnt und endet im Gefängnis. 1978 herausgegeben, ist es eine absolute Pflichtlektüre für Menschen, während deren Ausbildung zu Juristinnen und Juristen ein Gefängnisbesuch nicht zwingend ist.