Im Namen der Blume

Jean Genet geht es nicht bloß darum, die faktische Welt des Elenden und Verbrecherischen zu beschreiben. Er übernimmt den Blick der Gesellschaft, der ihn zum Verbrecher gemacht hat, und betrachtet so seine Existenz, die er dennoch als eine selbst gewählte Notwendigkeit versteht. Er stilisiert sich so zum "Minusheiligen", seine Moral ist rein ästhetisch, das einzige Kriterium der Tat ist ihre Eleganz.

1942 schreibt Jean Genet 32jährig im Gefängnis von Fresne seinen ersten Roman "Notre Dame des Fleurs", der ihn Mitte der vierzig er Jahre in den literarischen Kreisen Frankreichs bekannt macht. Sein zweiter Roman "Wunder der Rose" entsteht 1943 in den Gefängnissen von La Santé und Tourelle. Außerhalb des Gefängnisses schreibt Genet dann "Das Totenfest", "Querelle" und das "Tagebuch eines Diebes", womit 1948 sein Prosawerk bereits abgeschlossen ist.

Während Genet noch an der Fertigstellung des "Tagebuchs" arbeitet, gerät er erneut mit dem Gesetz in Konflikt. Aufgrund seiner zahlreichen Vorstrafen droht ihm die Verurteilung zu lebenslanger Haft. Ein Gnadengesuch Sartres (mit dem er im Mai 1944 Freundschaft schloss), Cocteaus, Gides und anderer Autoren beim französischen Staatspräsidenten hat jedoch Erfolg. 1951 beginnt die Veröffentlichung seiner gesammelten Werke bei Gallimard durch Vermittlung Sartres, der 1952 als ersten Band den eigenen Wälzer "Saint Genet, Komödiant und Märtyrer" als einführende Studie voranstellt.
1947 wird in Paris mit großem Erfolg Genets erstes Theaterstück "Die Zofen" uraufgeführt, in den fünfziger Jahren schreibt er ausschließlieh fürs Theater ("Unter Aufsicht", "Der Balkon", "Die Wände", "Die Neger", "Die Verrückten", "Die Mütter"; nachzuschlagen meist unter dem Stichwort "Absurdes Theater"), ab 1961 außer Anmerkungen zu seinen Stücken fast gar nichts mehr.
Soweit der literarische Steckbrief.

Genets Leben vor dem Aufstieg zum Enfant terrible des Literaturbetriebs detailliert aufzulisten, wäre seinen Intentionen als Schriftsteller unangemessen. Ein Findelkind, wird er in Paris von der Fürsorge aufgezogen, kommt mit sieben Jahren als Pflegekind zu einer Bauernfamilie aufs Land, wird mit fünfzehn Jahren wegen Diebstahls in die Besserungsanstalt von Mettray gesteckt. wo er nach drei Jahren ausbricht. Er meldet sich zur Fremdenlegion, desertiert jedoch. Danach fristet er seine Existenz als Bettler, Dieb und Strichjunge, vor allem in Frankreich und Spanien. Er zieht auch kreuz und quer durch Europa, wobei Gefängnis und Ausweisung die Regel sind. Sein autobiographisches "Tagebuch", mit "Verrat, Diebstahl und Homosexualität" als wesentliche Themen, ist keine Chronik der Ereignisse. Es geht Genet vielmehr um die Haltung, die er beim Schreiben entwickelt, um das Sein, das er literarisch demonstrieren will.
"Zwar ist es mir unmöglich, Euch den genauen Mechanismus dieses elenden Lebens zu beschreiben, aber ich kann wenigstens sagen, dass ich mich langsam dazu zwang, es als eine von mir selbst gewollte Notwendigkeit anzusehen. Niemals versuchte ich, es zu etwas anderem zu machen, als es war, ich versuchte nicht, es zu beschönigen, ihm eine hübsche Maske umzuhängen, sondern ich bemühte mich im Gegenteil, es zu bejahen in seiner ganzen Niedrigkeit, sodass die Zeichen größten Schmutzes mir zu Zeichen der Größe wurden." .... "Wenn ich mich im Santé-Gefängnis ans Schreiben machte, so nie, um meine Gemütsbewegungen wieder aufleben zu lassen oder sie anderen mitzuteilen; vielmehr benutzte ich das Bild, als das sie sich mir aufdrängen, um eine sittliche Ordnung aufzurichten, die (und zwar zunächst mir selbst) noch unbekannt war."

Aus der Gegenüberstellung dieser zwei Zitate aus dem "Tagebuch" wird die Differenz ersichtlich, die im Schreibprozess entsteht und die Genet auch betont: "Ich bin nicht auf der Suche nach der Vergangenheit; ich schreibe vielmehr ein Kunstwerk, dem mein früheres Leben als Vorwand dient.

( ... ) Man wisse also: die Ereignisse waren, wie ich sie schildere, aber ihre Ausdeutungen sind - was ich geworden bin." Beim Schreiben im Gefängnis gibt sich Genet seinen obsessiven Wachträumen voller Sehnsucht hin. Er entwirft für die Welt der Außenseiter eine negative Theologie. Genet übernimmt den Blick der Gesellschaft, der ihn (denn wenn er von seinen Helden spricht, spricht er im Grunde immer über sich selbst) von Kindheit an zum verbrecherischen Objekt degradiert hat. (Es ist anzumerken, dass besagter Blick wesentlich auch ein von literarischen Stereotypien geprägter war - heute hat diese Funktion "Aktenzeichen XY" übernommen; und Genet war keineswegs unbelesen. So erwähnt er im "Tagebuch" die Einfachheit der Aneignung von Büchern mittels einer Spezialaktentasche und in einem Interview, dass 1939 im Gefängnis neben Proust vor allem Dostojewskijs "Die Brüder Karamasow" zu seiner Lieblingslektüre zählte; was insofern interessant ist, als darin Dostojewskij den Vatermörder Smerdjakow mit symptomatischen Zügen desjenigen versieht, der für eine Verbrechernatur gehalten wird.) Zugleich versucht er diesem Objekt mittels einer paradox anmutenden Strategie die Autonomie des Subjekts zu verschaffen, indem er das ihm von der Gesellschaft auferlegte Urteil ins Absolute steigert, es sakralisiert. Genet stilisiert sich zum Minus-Heiligen der das Böse bedingungslos bejaht, indem er ihm zu Ehren schaurige Lobeshymnen erschallen lässt. Die "Moral" des heiligen Verbrechers hat eine rein ästhetische zu sein, das einzige Kriterium einer Tat ist ihre Eleganz. "Eine Tat ist schön, wenn aus ihr Gesang entsteht, der aus unserer Kehle aufsteigt." Unter den Schurken und Gaunern hat es daher auch keinerlei Ehrenkodex zu geben, nur in gänzlicher Verworfenheit kann der Verbrecher Souveränität erlangen: was er liebt, muss er verraten. Folglich ist nicht die Gesellschaft verachtenswert, sondern er selbst, und zwar absolut (Genet bezeichnet Verachtung als "das Gegenteil ewig währender Anbetung"). Genet zelebriert festliche Metamorphosen von Körpern, Kopulationen (Kult des Phallus), Verbrechen, Verhören, Strafen, Hinrichtungen. Erotik und Homosexualität werden mit religiösen Metaphern bekleidet, das Verbrechen wird zu einem Akt der Herrschaftsausübung aufgewertet. Die Besessenheit von der königlichen Würde ist gleichermaßen ein Leitmotiv wie die von der Heiligkeit. Die Morität gerät zum blutigen Fest von Taufe und Vermählung, das Gefängnis verwandelt sich in einen Palast. Genet ist vernarrt in Embleme der Macht und Männlichkeit, er produziert eine Emblematik des Verruchten. Im "Tagebuch" resümiert er: "Was will ich antworten, wenn man mich beschuldigt, solche Requisiten wie Jahrmarktsbuden, Gefängnisse, Blumen, die Ausbeute eines Kirchenraubs, Bahnhöfe, Grenzen, Opium, Seeleute, Häfen, Bedürfnisanstalten, Begräbnisse, ärmliche Zimmer zu benutzen, um daraus ein mittelmäßiges Melodram zu machen, mit leichter Hand hingeworfene, pittoreske Szenen mit inhaltsschweren Werken der Dichtkunst zu verwechseln? Ich sagte schon, wie sehr ich die von Euch Ausgestoßenen liebe, auch wenn sie über keine andere Schönheit als die ihres Körpers gebieten. Die Requisiten, die ich eben aufzählte, sind durchdrungen von der Heftigkeit der Männer, von ihrer Brutalität. Frauen kommen da nicht heran. Sie zehren von den Taten der Männer. " Durch die schrankenlose Schönheit verbrecherischer Poesie will Genet die Sprache besiegen, in der er von der Gesellschaft verurteilt worden ist: ein verbaler Sieg, eine Entgegnung auf höherer sprachlicher Ebene. Genets Anstrengung unablässig darauf konzentriert, der Niedrigkeit der Verbrechenswelten, die er immer wieder in beinhartem Realismus schildert, durch ein prunkhaft-festliches Gepräge ihre Autonomie zu verleihen. In der Gefängniszelle ist die Imagination ständig von der "Entzauberung des Gefängnisses" bedroht: ... "die Gefängnisse erschienen mir - was sie unter anderem auch sind - als ein Sammelsurium armer Kerle. Aber wenn ich weiter gehe, wenn mein Licht das Innere der großen Verbrecher ausleuchtet, verstehe ich sie besser. Dann empfinde ich wieder meine alte Ergriffenheit vor ihnen und ihrer Arbeit", heißt es in "Wunder der Rose". Später, im 1947 abgeschlossenen ''Tagebuch'', bricht hingegen mitunter ironische Distanz zum Erzählten durch, wenn etwa über Diebe und Zuhälter gesagt wird: "Wir wissen, ihre Abenteuer sind kindisch. Sie selbst dumm. Sie töten oder lassen sich töten für ein Kartenspiel, bei dem entweder der Gegner betrügt, oder sie selbst. Trotz alledem: dank solcher Kerle sind noch Tragödien möglich." Das Problem, dass der Raum, den Genets Konzeption durch die Identifikation mit den Erscheinungsformen der Macht, die sich bei ihm in sexuellen Riten manifestiert, eröffnen will, im Zeitalter des Faschismus schon ausreichend besetzt, dass die Stelle der suggerierten Allmacht in Wahrheit die der vollständigen Ohnmacht ist, bleibt ein unaufgelöster Widerspruch. Genet schreibt eben nicht auf der Basis einer Theorie der Gesellschaft, sondern auf der des aus seinen Erfahrungen gewonnenen Materials. Seine Trennung von Gut und Böse ist die des Märchens, voll ergreifender Naivität, und gerade darin abstoßend und gefährlich. Genet hat sich jedoch doppelt frei geschrieben. Auf die Frage, warum er niemals einen Mord begangen habe, antwortet er 1975: "Wahrscheinlich, weil ich meine Bücher geschrieben habe." Von der Bewunderung der schönen, eleganten Brutalität sei nur noch eine Leere übriggeblieben, eine Leere, die er zu leben habe.

Genet ist sich auch als wohnsitzloser Starautor treu geblieben. Seine ganze Kraft hat er aus dem geschöpft, was ist: nicht um die Gesellschaft zu verändern, sondern um voll gegen sie sein zu können. Er konkretisiert aber seinen Standpunkt und engagiert sich in politischen Bewegungen: bei den Black Panthers und den palästinensischen Fedajin. 1977 verteidigt er in "Le Monde" auf Seite 1 die RAP.
Im Mai 1986 stirbt Jean Genet zurückgezogen in Paris.

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