Jack Unterweger

Bild 1Wer als Besatzungskind geboren, von Pflegeeltern aufgezogen, mit Straftaten erwachsen und als 25jähriger zu Lebenslang verurteilt wird, was kann so einer aus seinem Leben noch machen? Jack Unterweger (40), Mörder, Schriftsteller, Herausgeber gibt auf diese Frage eine mögliche Antwort.
"Ich war kein Kind mehr. Ich war ein Biest, ein Teufel, ein vergreistes Kind, dem es gefiel, schlecht zu sein. Ich war längst tränenlos geworden. Opas Prügel wich ich aus, oder ich ertrug sie hassend, innerlich verbrennend." Diese Textstelle aus Unterwegers jüngstem Roman "Va Banque" berührt ob ihrer brutalen Traurigkeit einerseits, und vielmehr noch ob ihrer autobiographischen Brisanz andererseits. Alles, was den am 16. August 1950 in Judenburg (Steiermark) geborenen Sohn des US-Soldaten Jack Becker und der damals noch minderjährigen Theresia Unterweger (näheres unbekannt) heute noch an seine Eltern erinnert, ist der Name: Der Vorname vom Vater, der Nachname von der Mutter. Jack Unterweger war von klein auf ein Pflegekind - als Sechsjähriger vom Großvater  an Zieheltern weitergereicht, von diesen schließlich in ein Kinderheim gesteckt. Nach mehrmaligem Repetieren hat Jack in der 3. Klasse der Hauptschule Landskron seine Schulpflicht erfüllt und schlägt sich fortan mit diversen Jobs und Straftaten durch. Ein Delikt folgt dem anderen.

Polizei wird er als "schwerer Bursche" gehandelt, in Wahrheit ist er ein kleiner Fisch. Ein dummer Bub, der von einem Delikt zum nächsten stolpert - kaum einmal übersteigt der zugefügte Schaden tausend Schilling. Die Justiz tut das Ihrige dazu und verhängt über den Wiederholungstäter hohe Gefängnisstrafen. Am 11. Dezember 1974 aber findet die Verbrecherlaufbahn Unterwegers mit dem Mord an einem Mädchen ihren blutigen Höhepunkt, mit der einen Monat später in Basel erfolgten Verhaftung ihr Ende. Unterweger wird zu lebenslanger Haft verurteilt, sitzt seit April 1976 in der Strafvollzugsanstalt Stein.
Lebenslang - das bedeutet: mindestens 15 Jahre lang hinter Gefängnismauern. Manche verfallen ob dieser Tatsache in eine gewisse Lethargie, andere hängen sich auf, einige wenige versuchen den Ausbruch. Für Jack Unterweger ist es ein intellektueller Neubeginn. Zunächst einmal holt er als Externist an der Hauptschule Mautern bei Krems den Hauptschul-Abschluss nach. Angeregt durch den Fernkurs "Technik der Erzählkunst", den er in den Jahren 1978/79 absolviert, beginnt Unterweger nun seine literarische Arbeit.

Die Triebfeder für seine schriftstellerische Tätigkeit ist zunächst einmal das Aufarbeiten von persönlich Erlebtem - man könnte auch sagen: Er schreibt sich die Seele frei. Andere wären mit biographischen Aufzeichnungen wahrscheinlich bei Tagebuchnotizen steckengeblieben. Bei Unterweger stellt sich der literarische und mit der Veröffentlichung des ersten Buches ("Tobendes Ich", Bläschke, 1982) auch öffentlich anerkannte Erfolg bald ein. Seine Arbeiten sind Momentaufnahmen und Rückblenden, geben Aufschluss über Träume und Alpträume, demaskieren die doppelbödige Moral unserer Gesellschaft. Unterweger schreckt auf und hält mit seiner knappen, klaren und oft brutalen Sprache den Leser in Atem. Unterweger ist ein konsequenter und unerbittlicher Schreiber. Unerbittlich sich selbst und anderen gegenüber. Die Theaterstücke "Endstation Zuchthaus" und "Cri de Detresse" (Drama zum Thema Aids) lassen keine vordergründige Beschaulichkeit, keine falsche Mitleidigkeit aufkommen. Vielmehr stellen sie eine knallharte Abrechnung dar. Beide werden mit dem Dramatikerstipendium ausgezeichnet.

1983 folgen zwei weitere Bücher, "Worte als Brücke" (Bläschke) und "Fegefeuer oder Die Reise ins Zuchthaus" (Maro).
1985 beginnt Unterweger mit der Herausgabe seiner Literaturzeitschrift "Wortbrücke", deren Zielsetzung von der ersten Nummer an ganz klar ist: "Konstruktive Provokation der Gegenwartsereignisse in literarischer Form." In den nächsten eineinhalb Jahren publiziert Unterweger drei Bücher. Einen Band in der Lyrikreihe "Reflexionen" (Ventil) sowie die Maro-Romane "Bagno" und "Va banque".

Trotz des nicht zu übersehenden Erfolges – Bücher werden verlegt, "Endstation Zuchthaus " und "Cri de Detresse" werden auf Bühnen im ganzen deutschen Sprachraum aufgeführt, der Roman "Fegefeuer oder Die Reise ins Zuchthaus" wurde unter Regie von Willi Hengstler verfilmt - bleibt ein Wunsch Unterwegers bis dato unerfüllt: Die Möglichkeit, einmal außerhalb der Gefängnismauern eine Lesung zu halten. Selbst eine mit mehr als 3500 Unterschriften gezeichnete Petition wird vom Justizministerium zurückgewiesen: "Man könne die Reaktion der Bevölkerung nicht abschätzen." Wohl werden "draußen" Unterwegers Bücher vorgestellt, wohl organisiert der Wiener Kunstverein Leseabende in Stein (zu denen keine Mithäftlinge zugelassen sind), aber der nur ein paar Stunden dauernde Leseausgang bleibt dem Autor verwehrt.

"Es soll ein 'Starkult' verhindert werden", sagt Unterwegerüber die Beweggrunde "von denen da oben". Und fährt dann fort: "Okay, das muss ich zur Kenntnis nehmen. Auch wenn von einem Starkult keine Rede sein kann. Die Häftlinge kennen meine Arbeiten, sehen also, dass ich nichts verstelle oder schöner darstelle, als es ist. Und somit ist aus einer lauernden, oft neidhaften Beobachtung eine neutrale Distanz entstanden. Konfliktfrei, was nicht immer so klappte." Die Zeiten, wo er sich in der Anstaltsbibliothek durch Spötteleien zu einer handfesten Auseinandersetzung provozieren ließ, sind vorbei.

Jack Unterweger könnte vorzeitig bedingt entlassen werden. Für die Zeit bis dahin wird er noch viel Kraft brauchen. Obwohl er vieles geschafft hat. Oder vielleicht gerade deshalb. Lässt nun der/die geneigte LeserIn vor seinem/ihrem geistigen Auge all das Revue passieren, was er/sie mit dem Synonym Gefängnisliteratur verbindet, kann ihm/ihr, angefangen bei der babylonischen Gefangenschaft bis zum Grafen Monte Christo, die eigentümlich distanzierte Sicht, die idyllische, ja beschauliche Beschreibung auffallen. Sie findet ihre neuzeitliche Fortsetzung in der gängigen Populärsoziologie, die, Anteilnahme und wissenschaftliches Interesse heuchelnd, in Subkulturen herumstöbert. Hackordnung (Rangordnung im Gefängnis), Tätowierungen und ihre Bedeutungen, die Ganovensprache an sich, das ganze, leicht anrüchige Flair des "milieu" werden dem Voyeurismus preis gegeben, wohlfeile Ware für eine nimmersatte Informationsgesellschaft. Ein Blick durch's Schlüsselloch, der schnell langweilt. Sprach- und machtlos bleibt das Individuum, der Gefangene zurück. Die Unfähigkeit sich zu vermitteln, was es bedeutet plötzlich aller gewohnten sozialen Kontakte beraubt zu sein, das maßlose Aufbegehren gegen Zellenkoller und Stumpfsinn, die Entladungen in Form von Brutalität, Drogenbetäubung und Vergewaltigung, die Angst, zu Stein zu werden, wen kümmert's?
Martin Fritz, einer unserer sensibleren Kollegen, hat unlängst in einem Artikel1 die "Graue Maschine", das Landesgericht für Strafsachen in Wien, beschrieben, in der die Delinquenten als Nummern, Akten, Fälle behandelt werden. Eine Außenansicht, sozusagen. Was er anklingen lässt, ist eine für JuristInnen (vor allem in der Rechtsprechung) berufsmäßig bedingte schizoide Haltung. Hier Angehöriger einer bürgerlichen Elite, Ehemann/frau, Vater/Mutter, Freund - als JuristIn sachlich, kalt, nüchtern - die fleischgewordene Staatsmacht mit einem verdinglichten Verhältnis zum Gewaltunterworfenen. Die Authentizität, die packende Gewalt à la Unterweger scheint noch am ehesten geeignet, innere Bruchstellen aufzuspüren, einer seelischen Verknöcherung entgegenzuwirken. Wer die Akten der Nürnberger Prozesse, des Reichssicherheitshauptamtes gelesen hat, kann ermessen zu welchen Monstrositäten solche Abkoppelung führen kann. In Jura Soyfers Dachaulied heißt der Refrain: Bleib ein Mensch Kamerad - sei ein Mensch Kamerad. In diesem Sinne viel Spaß beim Lesen - viel Glück Jack Unterweger!

 

  • 1. Falter 5/90
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Herzlichen Dank an Christian Karni, Linzer Stadtschreiber, Mitarbeiter der Literaturzeitschrift Perspektive, für die Zurverfügungstellung des Materials.
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