Vortrag am Wiener Juridicum

Der deutsche Soziologe Niklas Luhmann hielt an der Wiener juridischen Fakultät einen Vortrag. Seine Thesen: in unserer Gesellschaft lebt sich 's immer ungefährlicher - dafür umso riskanter. Und: Ethik ist nicht mehr zugkräftig. Leider haben nur wenige Juristinnen zugehört.
Am 19. Jänner war Niklas Luhmann in Wien, sprach im gut gefüllten Hörsaal U 11 des "Juridicum'', und dennoch war kaum ein/e Juristln zu sehen. Das mag seine Ursache darin gehabt haben, dass das Institut für Soziologie, welches den großen Systemtheoretiker eingeladen hatte, die Veranstaltung nur im alten Hauptgebäude der Universität ankündigte und keinerlei Koordination oder Kooperation mit den JuristInnen suchte.
Eine Folge davon war, dass zur gleichen Zeit an allen Ecken und Enden des "Juridicum" Veranstaltungen abliefen. Insbesondere die RechtsphilosophInnen, welche durchaus berufen wären, flexibel und anpassungsfähig zu sein, hatten zur gleichen Zeit eine Veranstaltung im Dachgeschoß zum Generalthema "Nationalsozialismus und Recht".
Doch wie war der Rechtssoziologe aus Bielefeld? Im Großen und Ganzen enttäuschend, seine Sprachgewalt kam mitnichten an die Präzision seiner schriftlichen Ausdrucksweise heran. Dies hatte natürlich Vorteile, da auf diese Weise dem studentischen Publikum ein durchaus verständlicher Vortrag beschert wurde. Dass es Luhmann vor allem auf Verständlichkeit ankam, war offensichtlich. Die Beispiele, welche er seinen Ausführungen anschloss, waren überzeugend und amüsant. Somit bot der Vortrag gut eine Stunde lang Information und Anregung, ohne den stressgeplagten JusstudentInnen übermäßige intellektuelle Anstrengung abzufordern. Gerade deshalb war deren Abwesenheit bedauerlich, wenn auch verständlich.
 
Risiko und Gefahr
 
Einleitend sprach Luhmann über die Begriffsgeschichte des Ausdrucks Risiko und ging den "neuartigen Sicherheitsinteressen, welche die Genese des Wortes im 16. und 17. Jahrhundert bewirkten, nach. Bei der nachfolgenden Analyse verwarf er das Gegensatzpaar Risiko und Sicherheit als heuristisch nutzlos - und empfahl die Unterscheidung von Risiko und Gefahr. Hierzu führte er aus, dass der Begriff Gefahr einen Zustand umschreibt, in dem ein von außen kommender, unvorhersehbarer und unkalkulierbarer, möglicher Schaden droht. Wohingegen der Ausdruck Risiko· eine Situation umschreibt, in der ein möglicher Schaden auf eine menschliche Entscheidung zurückgeht. Zur Verdeutlichung dieser Definitionen gab er noch mehrere Beispiele, von denen hier zumindest eines wiedergegeben sei: In einem Zeitalter ohne seismographische Kenntnisse stellte jedes Erdbeben eine Gefahr dar. In unserem Zeitalter hingegen ist die Entscheidung, in einem Erdbebengebiet zu bauen, riskant. Diesem Gedanken folgend zeigte er eine gesellschaftsgeschichtliche Verschiebung auf, welche weg von der Gefahr und hin zum Risiko verläuft.
 
Ethik zieht nicht?
 
Luhmanns zweite These - die Sensibilität in Bezug auf mögliche Schäden ist unterschiedlich groß, je nachdem, ob man aus der Perspektive des Risikos oder der Gefahr handelt - stellt m. E. das Kernproblem des Vortrages dar. Zur Verdeutlichung dieser unterschiedlichen Sensibilitäten dienten Luhmann das Verhalten im Straßenverkehr, die Aids-Problematik und der Umgang mit neuen Technologien (Atom-, Gentechnologie). Wobei allerdings seine Schlussfolgerung, dass diese Diskrepanz in der Sensibilität so groß sei, dass ethische Kriterien nicht mehr zugkräftig seien, dem Berichterstatter zu apodiktisch ist. Die Erforschung dieser Diskrepanz stellt eines der Kernprobleme der Gegenwart dar, da sie sich als gesamtgesellschaftliche Trennung. in riskant Handelnde (zum Beispiel Betreiber von Wiederaufbereitungsanlagen) und Betroffene (welche einer für sie unberechenbaren und uneinsichtigen Gefahr ausgesetzt sind) vollzieht. Dieser Problematik kann man m. E. nicht mit einer bloßen Negation - keine Ethik ist mehr zugkräftig - gerecht werden. Welche Art von Ethik dieser Sachlage gerecht wird, bleibt allerdings eine offene Frage.