Prolog Österreichs Vergangenheit rückte auf Grund der sog „Waldheim-Affäre“ in den Blickpunkt: Die Kandidatur von Kurt Waldheim für das Amt des Bundespräsidenten warf Fragen zu seiner Rolle in der Nazizeit auf. Eine weit reichende Debatte um „die“ Vergangenheit Österreichs folgte. Nach einem Einbekenntnis der Verantwortung durch den damaligen Bundeskanzler Franz Vranitzky 19911 setzten neue Entwicklungen ein. Der Nationalfonds der Republik Österreich wurde 1995 eingerichtet2, er hat das Ziel, mittels sog „Gestezahlungen“ (ex gratia Leistungen) „die besondere Verantwortung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus zum Ausdruck zu bringen“.3
Zur historischen Aufarbeitung des Vermögensentzugs während der NS-Zeit wurde 1998 die Historikerkommission eingesetzt. Auf Grund ihres Zwischenberichts zum Schicksal ehemaliger ZwangsarbeiterInnen und im Lichte des durch Sammelklagsverfahren in den USA entstandenen Drucks wurden Verhandlungen zur Regelung des Themenkomplexes Sklaven- und Zwangsarbeit initiiert, und der Versöhnungsfonds ins Leben gerufen.4
Die Diskussion in österreichischen Nachbarländern und die in den USA gegen österreichische Unternehmen anhängigen Sammelklagen („class actions“) auf Entschädigung für verfolgungsbedingte Verluste und Schäden durch das NS-Regime veranlassten die Bundesregierung, weitere Lösungen zu suchen. Anders als in Deutschland wurden die Entschädigung von Sklaven- bzw. Zwangsarbeit und die Abgeltung von Vermögensschäden klar getrennt.5
Die Einrichtung des Fonds Im Mai 2000 wurde Ernst Sucharipa als Sonderbotschafter für Restitutionsangelegenheiten eingesetzt. Nach mehrmonatigen Verhandlungen mit Vertretern der Regierung der USA und einigen Opferorganisationen wurde am 17. Jänner 2001 das sog „Washingtoner Abkommen“ unterzeichnet.6 Es sieht folgende Maßnahmen vor:
- Abgeltung von Bestandrechten an Wohnungen und gewerblichen Geschäftsräumlichkeiten, Hausrat und persönlichen Wertgegenständen
- Verbesserung von Sozialleistungen
- Einrichtung des Allgemeinen Entschädigungsfonds
Die Abgeltung von Bestandrechten an Wohnungen und gewerblichen Geschäftsräumlichkeiten, Hausrat und persönlichen Wertgegenständen wurde durch eine Änderung des Nationalfondsgesetzes möglich.7 Die Verbesserung der Sozialmaßnahmen wurde von dem Erfordernis der sog „Rechtssicherheit“ gelöst,8 die Änderungen des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes und des Opferfürsorgegesetzes traten am 1. März 2002 in Kraft. Der Fonds wurde „zur umfassenden Lösung offener Fragen der Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus für Verluste und Schäden, die als Folge von oder in Zusammenhang mit Ereignissen auf dem Gebiet der heutigen Republik Österreich während der Zeit des Nationalsozialismus entstanden sind“, eingerichtet.9 Seine Zielsetzung ist „die moralische Verantwortung für Verluste und Schäden, die als Folge von oder in Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Regime den jüdischen Bürgerinnen und Bürgern sowie den anderen Opfern des Nationalsozialismus zugefügt wurden, durch freiwillige Leistungen anzuerkennen“.10 Dotierung und Rechtssicherheit Die Dotierung des Fonds beträgt US$ 210 Millionen. Die Bereitstellung dieser Summe ist von der sog. Rechtssicherheit („legal closure“) abhängig, womit v.a. die Rückziehung der am 30. Juni 2001 in den USA gegen die Republik Österreich oder österreichische Unternehmen noch anhängigen Sammelklagen gemeint ist.11 Des Weiteren haben die USA gemäß dem „Washingtoner Abkommen“ eine Erklärung („Statement of Interest“) abgegeben, wonach die Weiterverfolgung der betreffenden Klagen vor US-amerikanischen Gerichten den außenpolitischen Interessen der USA entgegensteht.12 Derzeit sind zwei Sammelklagen („class actions“) anhängig: eine „für alle Opfer, die nie angemessen entschädigt wurden“ (Whiteman et al) und eine weitere, die eine höhere Gesamtsumme für die Entschädigung von Versicherungen innerhalb des Entschädigungsfonds fordert (Anderman et al). Antragsberechtigung Die folgenden kumulativen Tatbestandselemente müssen erfüllt sein: es muss sich um eine Person handeln, die vom nationalsozialistischen Regime aus politischen Gründen, aus Gründen der Abstammung, Religion, Nationalität, sexuellen Orientierung, auf Grund einer körperlichen oder geistigen Behinderung oder auf Grund des Vorwurfs der Asozialität verfolgt wurde. Auch Personen, die das Land verlassen haben, um der Verfolgung zu entgehen, sind antragsberechtigt (§ 6 EF-G). Weitere Voraussetzung sind Verluste oder Schäden, die als Folge von oder in Zusammenhang mit Ereignissen auf dem Gebiet der heutigen Republik Österreich während der Nazizeit erlitten wurden. ErbInnen dieser Personen sind ebenfalls antragsberechtigt; im Forderungsverfahren auch Vereinigungen, die Rechtsnachfolge wird durch das jeweilige Gremium beurteilt.13 Das Gesetz behandelt im ersten Teil die monetäre Abgeltung von Vermögensverlusten, die vom unabhängigen Antragskomitee beurteilt werden. Im zweiten Teil des EF-G ist die sog „Naturalrestitution“ geregelt, d.h. die Rückgabe von Liegenschaften, Gebäuden und kulturellen oder religiösen Gegenständen, die durch die Schiedsinstanz empfohlen werden kann. Das Antragskomitee Das Gremium zur Entscheidung über die finanzielle Abgeltung von Anträgen an den Fonds ist das Antragskomitee. Es setzt sich aus Sir Franklin Berman (als Vorsitzenden), Professor Robert Rosenstock und Kurt Hofmann, Vizepräsident des OGH i.R., zusammen. Die konstituierende Sitzung fand am 12. November 2001 statt, die Geschäfts- und Verfahrensordnung (AK-GVO) wurde am 2. Juli 2002 beschlossen.14 Vermögenskategorien Folgende Verluste und Schäden können geltend gemacht werden: ◗ Liquidierte Betriebe einschließlich Konzessionen und anderes Betriebsvermögen;
- Immobilien, soweit für diese nicht Naturalrestitution geleistet wurde;15
- Bankkonten, Aktien, Schuldverschreibungen, Hypotheken;
- Bewegliches Vermögen, soweit es nicht durch die Abgeltung von Bestandrechten (§ 2b NationalfondsG, siehe oben) erfasst ist;
- Versicherungspolizzen.16
Das Forderungsverfahren Im Forderungsverfahren müssen Antragstellende den Beweis oder die Glaubhaftmachung des Eigentumsrechtes nach erleichterten Beweisstandards antreten (§ 15 Abs 2 EF-G). Zusätzlich muss behauptet werden, dass die gestellte Forderung niemals zuvor von einem österreichischen Gericht oder einer Verwaltungsbehörde endgültig entschieden oder einvernehmlich geregelt wurde. Wenn eine solche Entscheidung oder einvernehmliche Regelung vorliegt, muss entweder nachgewiesen werden, dass diese extrem ungerecht war oder dass die gestellte Forderung von einem österreichischen Gericht oder einer Verwaltungsbehörde aus Mangel an Beweisen abgelehnt wurde und dass diese Beweise nun zur Verfügung stehen.17 § 15 Abs 2 EF-G umschreibt die erleichterten Beweisstandards als Nachweis, der in der Regel durch unterstützende Unterlagen erfolgt. Sofern keine entsprechenden Beweismittel vorhanden sind, kann das Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen auch auf andere Weise glaubhaft gemacht werden; so kann für die Nichtentscheidung durch ein österreichisches Gericht oder eine Verwaltungsbehörde sowie für den Mangel an Beweisen in einem früheren Verfahren eine eidesstattliche Erklärung beigebracht werden.18 Bestätigt das Antragskomitee, dass der Antragstellende die Beweiserfordernisse erfüllt, so legt es einen Gesamtbetrag aller anerkannten Forderungen fest (sog Forderungsbetrag).19 Bei der Festlegung desselben sind Entschädigungen durch andere Maßnahmen zu berücksichtigen. Zu diesen anderen Maßnahmen zählen die Abgeltung von Bestandrechten (§ 2b NationalfondsG), Leistungen aus der deutschen Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und die Zukunft“, die Befriedigung von Forderungen durch die Versicherungsentschädigungsgesetze oder durch ICHEIC – International Commission on Holocaust Era Insurance Claims, weiters die Befriedigung von Ansprüchen durch den Bank-Austria-Vergleich.20 Gelangt das Antragskomitee zu dem Schluss, dass die Forderung dem Grunde nach nicht besteht, so ist der Antragstellende davon mit Beschluss zu verständigen, wobei der Antrag bei vollständiger und endgültiger Ablehnung im Forderungsverfahren noch im Billigkeitsverfahren behandelt wird.21 Nachdem über alle Anträge entschieden worden ist, wird das Antragskomitee auf Grundlage der festgelegten Forderungsbeträge und nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden Mittel einen verhältnismäßig zu kürzenden Betrag – pro rata – zuerkennen (Zuerkennungsbetrag).22 Das Billigkeitsverfahren Sofern der Antragstellende nicht in der Lage ist, die Beweisstandards des Forderungsverfahrens zu erfüllen, kann der Antrag im Billigkeitsverfahren gestellt werden. Verluste und Schäden, die hierfür in Frage kommen, sind die des § 14 EF-G (siehe oben) und berufs- und ausbildungsbezogene Verluste, die in oben zitiertem Zusammenhang mit der Nazizeit stehen. Weiters können auch andere Forderungen und Verluste dieses Zeitraums geltend gemacht werden, soweit sie nicht vom Versöhnungsfonds oder von der Schiedsinstanz erfasst sind.23 Das Antragskomitee kann eine Billigkeitszahlung zuerkennen, wenn in einer der Vermögenskategorien ein berücksichtigungswürdiger Fall vorliegt oder wenn die Forderung zwar durch ein österreichisches Gericht oder eine Verwaltungsbehörde endgültig entschieden wurde bzw. einvernehmlich geregelt wurde, diese Entscheidung/Regelung jedoch unzureichend war.
Eine Zahlung ist auch für berufs- und ausbildungsbezogene Verluste vorgesehen, wenn diese nicht ausreichend entschädigt wurden. Eine Forderung für „alle anderen Verluste und Schäden“ muss berechtigt sein.24 Billigkeitszahlungen werden pro Haushalt geleistet, das Komitee kann pro Haushalt nicht mehr als eine Billigkeitszahlung zuerkennen.25 Diese Zahlungen erfolgen pauschal in drei Stufen, das Antragskomitee entscheidet über die Höhe der Pauschalsummen, wobei die Gesamtzahl der anerkannten Forderungen im Billigkeitsverfahren berücksichtigt wird. Der für das Billigkeitsverfahren zur Verfügung stehende Betrag wird durch die Anzahl derjenigen Personen, welche zwischen 12. März 1938 und 9. Mai 1945 in häuslicher Wohngemeinschaft lebten, geteilt.26 Die Schiedsinstanz für Naturalrestitution Die „Schiedsinstanz für Naturalrestitution“ behandelt, gemäß dem im Teil 2 des EF-G festgeschriebenen gesetzlichen Auftrag, als unabhängiges Gremium Anträge auf Naturalrestitution von öffentlichem Vermögen und kann, im Gegensatz zum Antragskomitee, dessen Rückübereignung an die Antragstellenden bei Vorliegen der jeweiligen Voraussetzungen empfehlen. Die Schiedsinstanz, die sich aus Professor Josef Aicher (als Vorsitzenden), Professor August Reinisch und Botschafter Erich Kussbach zusammensetzt, hat sich am 5. Oktober 2001 konstituiert und sich am 11. April 2002 eine Geschäfts- und Verfahrensordnung gegeben (SI-GVO).27 Während sich die Antragsberechtigung an jener für das Forderungs- bzw. Billigkeitsverfahren vor dem Antragskomitee orientiert,28 weisen die weiteren Voraussetzungen, die für eine Empfehlung auf Naturalrestitution gegeben sein müssen, naturgemäß einige Besonderheiten auf. Insbesondere ist die Zuständigkeit der Schiedsinstanz auf die Prüfung von Anträgen auf Naturalrestitution von „öffentlichem Vermögen“ beschränkt,29 wobei der Gesetzgeber den Begriff des öffentlichen Vermögens an drei kumulativen Tatbestandselemente knüpft:30 es muss sich um Liegenschaften oder Superädifikate handeln, die erstens dem früheren Eigentümer im Zeitraum zwischen dem 12. März 1938 und dem 9. Mai 1945 verfolgungsbedingt im Zusammenhang mit Ereignissen auf dem Gebiet der heutigen Republik Österreich während der Zeit des Nationalsozialismus entzogen wurden; zweitens dürfen diese grundsätzlich, d.h. mit noch zu erläuternden Ausnahmen, nicht Gegenstand einer früheren Entscheidung bzw. Vergleiches gewesen sein, wobei im Gegensatz zum Antragskomitee die Antragstellenden oder deren Verwandte auch auf keine andere Weise eine Entschädigung oder sonstige Gegenleistungen für die Forderung erhalten haben dürfen; und drittens muss sich die Liegenschaft oder das Superädifikat zum Stichtag des 17. Jänners 2001 im Eigentum des Bundes bzw. eines Landes (oder einer Gemeinde), das dem Schiedsinstanz-Verfahren gemäß § 38 EF-G beigetreten ist, befunden haben. Letztere Voraussetzung ist auch dann erfüllt, wenn die Liegenschaft oder das Superädifikat zu jenem Zeitpunkt im Eigentum einer dem Bund bzw. den Ländern (oder Gemeinden) zugehörigen juristischen Person des öffentlichen oder privaten Rechts stand. Außerdem können auch bewegliche körperliche Sachen, insb. kulturelle oder religiöse Gegenstände, unter den erwähnten Voraussetzungen an bestimmte Gemeinschaftsorganisationen natural-restituiert werden.31 Die Prüfung, ob sich der Vermögenswert, wie von den Antragstellenden behauptet, im öffentlichen Vermögen befindet, hat die Schiedsinstanz unter Mitwirkung des Bundes bzw. der Länder (oder Gemeinden) durchzuführen.32 Das Verfahren vor der Schiedsinstanz Die Bezeichnung „Schiedsinstanz“ lässt bereits darauf schließen, dass es sich hierbei im Gegensatz zum Antragskomitee um ein Verfahren handelt, das Züge eines internationalen Schiedsverfahrens aufweist. Dies wird im EF-G auch durch § 23 deutlich, in dem für die Benennung der Mitglieder deren Vertrautheit mit einschlägigen Bestimmungen des österreichischen und internationalen Rechts, insb. der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verlangt wird. Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem Verfahren nicht um ein Schiedsverfahren im herkömmlich juristischen Sinn handelt, da es einige Besonderheiten zugunsten der Antragstellenden aufweist. Insbesondere sehen sich die Antragstellenden, im Gegensatz zu den Rückstellungsverfahren nach dem 2. Rückstellungsgesetz oder dem 3. Rückstellungsgesetz, nicht mit einem „Antragsgegner“ konfrontiert. Die österreichische Bundesregierung hat formell keine Parteistellung in dem Schiedsverfahren, sondern kann der Schiedsinstanz gegenüber ihre Rechtsansicht zu einzelnen Anträgen mittels eines sog „Vorbringens“ äußern.33 Dieses Vorbringen bildet, gemeinsam mit der Falldokumentation der österreichischen Historikerkommission und den Anträgen der Antragstellenden, die Grundlage für eine Entscheidung der Schiedsinstanz, wobei diese auf Grund freier Beweiswürdigung erfolgt.34 Das Verfahren vor der Schiedsinstanz ist darüber hinaus derart gestaltet, dass es für die Antragstellenden grundsätzlich nicht notwendig sein soll, sich eines Rechtsvertreters zu bedienen. So sieht die Geschäfts- und Verfahrensordnung vor, dass die Schiedsinstanz die Antragstellenden bei der Vervollständigung ihres Antrags unterstützt.35 Auch nimmt die Schiedsinstanz bei der Beurteilung des Vorliegens der Verfolgung bzw. des Zusammenhangs zwischen Verfolgung und Verlusten oder Schäden auf die bekannten historischen Umstände und Zusammenhänge Bedacht36 und gibt dem Antragsteller in ihrer Geschäfts- und Verfahrensordnung exemplarische Anhaltspunkte bezüglich der möglichen Beweismittel zum Verfolgungsbeweis und dem Beweis der Erbenstellung.37 Der Themenkomplex der früheren Maßnahmen Die Frage des Verhältnisses der Maßnahmen nach dem EF-G zu bereits früher eingerichteten Entschädigungsmaßnahmen ist naturgemäß von großer Wichtigkeit für das Forderungs- bzw. Billigkeitsverfahren vor dem Antragskomitee und dem Schiedsinstanzverfahren. Grundsätzlich haben der Entschädigungsfonds und seine beiden Entscheidungsgremien die gesetzliche Aufgabe, offene Fragen der Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus umfassend zu lösen, wobei im EF-G von „moralischer Verantwortung“ und „freiwilligen Leistungen“ die Rede ist.38 Letzteres ist insofern für die Frage des Verhältnisses zu den früheren Maßnahmen bedeutsam, als es sich bei den Entschädigungsfonds-Verfahren grundsätzlich nicht um Ansprüche im streng-juristischen Sinn handelt, die zivilprozessrechtlich mit früheren Entschädigungs- und vor allem Rückstellungsmaßnahmen konkurrieren könnten. Dennoch gilt zu beachten, dass der Entschädigungsfonds zur Lösung „offener Fragen“ eingerichtet wurde und grundsätzlich die Bindungswirkung früherer Entscheidungen oder einvernehmlicher Regelungen als „res iudicata“ berücksichtigt. Eine Durchbrechung ist jedoch möglich, wenn in besonderen Einzelfällen festgestellt wird, dass eine frühere Regelung von Verlusten oder Schäden durch österreichische Gerichte oder Verwaltungsbehörden (einschließlich einvernehmlicher Regelungen) „extrem ungerecht“ war, oder eine frühere Forderung aus Mangel an erforderlichen Beweisen abgelehnt wurde und die Antragstellenden in der Zwischenzeit über derartige Beweise verfügen (nova reperta).39 Sollten diese Ausnahmetatbestände nicht zutreffen, so gilt, dass für Forderungen betreffend Verluste und Schäden, die durch österreichische Gerichte oder Verwaltungsbehörden endgültig entschieden oder einvernehmlich geregelt wurden, keine Leistung zu erbringen ist.40 Wann eine „extreme Ungerechtigkeit“ vorliegt, und unter welchen Voraussetzungen diese geltend gemacht werden kann, muss durch die beiden Entscheidungsgremien im Einzelfall festgestellt werden.41 Fest steht, dass die Frage der früheren Maßnahmen durchaus eine Fülle von Anträgen vor dem Entschädigungsfonds betreffen dürfte, da die Republik Österreich seit 1945 umfangreiche gesetzliche Maßnahmen zur Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus ergriffen hat. Diese beschränken sich nicht nur auf die Rückstellung von entzogenen Vermögensgütern, sondern auch auf finanzielle Entschädigung für Verluste und Schäden, die im Zusammenhang mit dem NS-Regime erlitten wurden.42 Ergänzend sei noch erwähnt, dass, auch wenn die Tatbestände der extremen Ungerechtigkeit oder der neu zugänglich gewordenen Beweise nicht vorliegen, das Antragskomitee eine Billigkeitszahlung zuerkennen kann, sollte sich die frühere Regelung als unzureichend herausstellen.43 Von den bereits angesprochenen früheren Maßnahmen und deren Verhältnis zu dem Entschädigungsfonds sind jene Rückstellungs- und Entschädigungsmaßnahmen zu unterscheiden, die parallel zu dem EF-G auf österreichischer und internationaler Ebene eingerichtet worden sind. Das EF-G spricht in diesem Zusammenhang von „Leistungen für jene Verluste oder Schäden [...], für die bereits aufgrund anderer Maßnahmen Entschädigung geleistet wurde“ (§ 16 Abs 1 EF-G) und bezieht sich in einer demonstrativen Aufzählung u.a. auf die Maßnahmen zur Entschädigung von Bestandrechten an Wohnungen und gewerblichen Geschäftsräumlichkeiten, Hausrat und persönlichen Wertgegenständen,44 Maßnahmen der deutschen Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“,45 das Anspruchserledigungsverfahren der „International Commission on Holocaust Era Insurance Claims“ (ICHEIC) und den Bank-Austria Vergleich von 1999.46 Im Gegensatz zu den früheren Maßnahmen, die nach § 10 Abs 1 EF-G grundsätzlich, d.h. soweit kein Ausnahmetatbestand Anwendung findet, einer neuerlichen Entschädigung entgegenstehen, sind die sog anderen Maßnahmen nach dem EF-G von dem Antragskomitee „zu berücksichtigen“, wobei darauf Bedacht genommen werden soll, dass ein Antragsteller „keine Leistung für jene Verluste oder Schäden erhält, für die bereits [...] Entschädigung geleistet wurde“.47 Die Rolle der österreichischen Historikerkommission für den Entschädigungsfonds Die Arbeit der österreichischen Historikerkommission hat für den Entschädigungsfonds, v.a. für das Verfahren vor der Schiedsinstanz, in dreierlei Hinsicht große Bedeutung erlangt. Zunächst stellt die wissenschaftliche Aufarbeitung historischer und auch rechtshistorischer Fragen betr. die Entzugspraxis des NS-Regimes sowie die österreichischen Entschädigungsmaßnahmen der Republik nach 1945 eine wichtige allgemeine Grundlage für die Beurteilung konkreter Anträge und der in diesen enthaltenen Sachverhalte dar. Die juristische Einschätzung der sich aus den einzelnen Anträgen ergebenden Rechtsfragen erfordert eine umfassende Kenntnis der geschichtlichen Zusammenhänge und Hintergründe. Darüber hinaus kam der Historikerkommission hinsichtlich einzelner Anträge – laut dem Bericht des Verfassungsausschusses betr. das EF-G – die für das Schiedsinstanz-Verfahren bedeutsame Aufgabe zu, „vorrangig den Entzug und Verbleib von Liegenschaften und Gebäuden aus dem früheren Besitz von Opfern des Nationalsozialismus und von Vermögen von Vereinigungen, insbesondere jüdischen Vereinen, zu untersuchen“.48 Diese Befunde der österreichischen Historikerkommission bilden gemeinsam mit den vom Antragsteller vorgelegten Beweisen und dem Vorbringen der österreichischen Bundesregierung die Prüfungsgrundlage für Empfehlungen der Schiedsinstanz.49 Zu guter Letzt hat sich das Staatsarchiv und damit auch die Arbeit der Historikerkommission für die Antragsteller als wichtiger Anhaltspunkt bei der konkreten Ermittlung der historischen Vorgänge erwiesen. Eine sinnvolle und rasche Abwicklung der beim Entschädigungsfonds einlangenden Anträge wäre somit ohne die Untersuchungsergebnisse im Allgemeinen sowie im Einzelfall nur schwerlich denkbar. Dr. Michael Schoiswohl, LL. M. (NYU) ist Assistent am Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen und arbeitet pro bono beim Allgemeinen Entschädigungsfonds. * Die nachfolgenden Ausführungen geben die persönlichen Ansichten der AutorInnen wieder.
- 1. StenProtNR, 35. Sitzung, 18. GP 3282.
- 2. BGBl 1995/432.
- 3. Siehe § 1 Abs 2 Nationalfondsgesetz, BGBl 1995/432.
- 4. Versöhnungsfonds-Gesetz, BGBl I 2000/74, weiters http://www.versoehnungsfonds.at.
- 5. Winkler, Entschädigung für Sklaven- und Zwangsarbeiter durch Österreich, Favorita Papers 02/2002, Österreichischer Völkerrechtstag 2001, 17.
- 6. Das „Washingtoner Abkommen“ samt Anlagen findet sich in: Außenpolitische Dokumentation 2001, Österreichische Maßnahmen zur Restitution und Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus, Dokument 10, 86 ff.
- 7. Bundesgesetz, mit dem das Bundesgesetz über den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus geändert wird, BGBl I 2001/11.
- 8. Siehe dazu sogleich
- 9. Siehe § 1 Abs 1, Entschädigungsfondsgesetz (EF-G) BGBl I 2001/12.
- 10. Siehe § 1 Abs 2 EF-G.
- 11. Siehe § 2 Abs 1 EF-G.
- 12. Siehe Annex A, Punkt 10, supra FN 6.
- 13. Siehe § 6 Abs 1 und 2 EF-G.
- 14. Die Geschäfts- und Verfahrensordnung (AK-GVO) kann in englischer und deutscher Sprache unter http://www.nationalfonds.org abgerufen werden.
- 15. Zur Schiedsinstanz für Naturalrestitution siehe infra.
- 16. Siehe § 14 EF-G.
- 17. Siehe § 15 Abs 1 EF-G.
- 18. Siehe § 15 Abs 2 EF-G.
- 19. Siehe § 17 Abs 1 AK-GVO.
- 20. Siehe § 16 Abs 2 EF-G.
- 21. Siehe § 17 Abs 2 AK-GVO iVm § 9 letzter Satz EF-G.
- 22. Siehe § 17 Abs 3 AK-GVO.
- 23. Siehe § 19 EF-G.
- 24. Siehe § 20 EF-G.
- 25. Siehe § 21 Abs 1 EF-G.
- 26. Siehe § 21 Abs 1 AK-GVO.
- 27. Die Geschäfts- und Verfahrensordnung der Schiedsinstanz (SI-GVO) kann in englischer und deutscher Sprache unter http://www.nationalfonds.org abgerufen werden.
- 28. Siehe § 27 EF-G.
- 29. Siehe § 23 Abs 1 EF-G.
- 30. Siehe § 28 EF-G.
- 31. Siehe § 28 Abs 2 EF-G.
- 32. Siehe § 31 EF-G.
- 33. Dieses Vorbringen bildet gemeinsam mit den vorgelegten Beweisen und allfälligen relevanten Befunde der österreichischen Historikerkommission die Prüfungsgrundlage für Empfehlungen der Schiedsinstanz. Siehe § 30 EF-G.
- 34. Siehe § 18 SI-GVO.
- 35. Siehe § 16 Abs 3 SI-GVO.
- 36. Siehe § 19 Abs 1 SI-GVO.
- 37. Siehe § 19 Abs 2 und § 20 Abs 2 SI-GVO.
- 38. Siehe § 1 Abs 1 und 2 EF-G.
- 39. Siehe § 10 Abs 2 iVm § 15 Abs 1 Z 2 und Z 3, sowie § 32 Abs 2 EF-G.
- 40. Siehe § 10 Abs 1 EF-G.
- 41. Empfehlungen der Schiedsinstanz werden auf der Homepage unter www.nationalfonds.org veröffentlicht.
- 42. Siehe vor allem das Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz BGBl 1958/127; Abgeltungsfondsgesetz, BGBl 1961/100; Opferfürsorgegesetz, BGBl 1947/183.
- 43. Siehe § 20 Z 1 EF-G.
- 44. Siehe FN 7.
- 45. dBGBl I 2000/38.
- 46. Siehe § 16 Abs 2 EF-G.
- 47. Siehe § 16 Abs. 2 EF-G.
- 48. Bericht und Antrag des Verfassungsausschusses betreffend den Entwurf eines Bundesgesetzes über die Einrichtung eines Allgemeinen Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus und über Restitutionsmaßnahmen (Entschädigungsfonds-Gesetz) sowie zur Änderung des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes und des Opferfürsorgegesetzes, 476 BlgNR 21. GP.
- 49. Siehe § 30 EF-G.