Ziviler Ungehorsam (2):

Der Rechtsstaat ist definitions- und systemgemäß dadurch eingeschränkt, dass eingeräumte Individualbefugnisse in ihm selbst ihre Grenzen finden. Diese – an sich nicht verblüffende – Überlegung wurde durch Erörterungen deutscher Rechtstheoretiker zur Problematik des Widerstandsrechts veranschaulicht. Diese gelangen zum Ergebnis, dass selbst das sogenannte überpositive Widerstandsrecht im Rechtsstaat nur durch Anerkennung der zuletzt entscheidenden staatlichen Organe einen Niederschlag finden kann, während das in der Verfassung der BRD verankerte – positive – Widerstandsrecht in der dort festgeschriebenen Definition staatsumbrüchlerische Voraussetzungen zur Geltendmachung vorsieht.

Die Rechtsordnung kann daher in geschriebener oder ungeschriebener Form Individualrechte nur insoweit einräumen, als sie sich insgesamt nicht gefährdet sieht. Von der anderen Seite betrachtet ist die Rechtsordnung eben nur solange Instrument zur Verteilung rechtserheblicher Rollen, als sie in Wirksamkeit steht. Nochmal anders: Stößt man fundamentale Prinzipien wie beispielsweise dasjenige der demokratischen Staatsordnung um, erübrigt es sich, Inhalte dieser Ordnung einer weiteren Betrachtung kraft Wirksamkeit zuzuführen. Die Rechtsordnung kann aber innerhalb dieser Schranken das ihrem Stufenbau, ihrer Konstruktion innewohnende leisten. Sie kann – gemessen an der österreichischen Verfassung – als höchstes und bestabgesichertes Schutzmuster für Normunterworfene Grund- und Freiheitsrechte, wie bereits verwirklicht, verankern. Das Grundrecht auf zivilen Ungehorsam (Denkansatz in Anlehnung an das positivierte Widerstandsrecht der BRD) ist in Österreich nicht verwirklicht. Dieses wäre aber durchaus analog beispielsweise zu dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit oder dem Minderheitenschutz homogen in die österreichische Verfassungsordnung einzubauen. Über die Modalitäten dieser Verfassungswerdung eines neuen Grundrechtes ist hier nicht abzusprechen. Verwiesen sei aber auf die, in Österreich in prä- und präterparlamentarischen Gremien geführte, zum Nachteil des hierzulande schwach ausgeprägten Demokratiebewusstseins leider unter vollkommenem Ausschluss der Öffentlichkeit, seit Jahrzehnten auf der Tagesordnung stehende „Grundrechtsdiskussion“, welche durch die angestellten Überlegungen – ohne Überschätzung derselben – durchaus sinnvoll belebt werden könnte.

Was könnte also ein Grundrecht auf zivilen Ungehorsam im Wesentlichen bringen? Die Antwort fällt meiner Ansicht nach leichter als möglicherweise vermutet. Das zu schaffende Grundrecht auf zivilen Ungehorsam wäre in der Lage, einen – näher spezifierten – Generaltatbestand zur Rechtfertigung des Verstoßes gegen einfachgesetzliche Normen zur Anwendung zu bringen. Gemäß der österreichischen Rechtsordnung hätte dieses sowohl im gerichtlichen als auch im Verwaltungsverfahren die Durchsetzung eines auf qualifizierten Voraussetzungen beruhenden Strafbefreiungsgrundes zur Folge. Ziviler Ungehorsam wäre dergestalt ein Abwehrrecht eines durch staatliche Organe geführten Angriffs auf näher zu beschreibende Rechtsgüter der Allgemeinheit, wie Umwelt, Lebensraum, Leben, Freizügigkeit etc. (siehe obige Ausführungen). Ein möglicherweise zu erhebender Vorwurf der Schaffung eines „generellen“ Grundrechts verfängt nicht, da durch dieses Grundrecht nicht mehr (auch nicht weniger) als eine äußerste Schranke für staatliches Verhalten als Einschränkung der Rechtsstellung des Individuums geschaffen würde. Das Grundrecht auf persönliche Freiheit (Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, Art. 5 MRK, BVG über den Schutz der persönlichen Freiheit 1988, in Kraft ab 1.1.1991) erbringt in seiner Wirkungsweise vergleichsweise nichts anderes. Der Unterschied zwischen diesem und jenem ergibt sich naturgemäß aus dem Schutzobjekt. Ein Grundrecht auf zivilen Ungehorsam stellt die legitime in Schranken zutreffende Kompetenz des Einzelnen zur Abwägung von Rechtsgütern der höchsten Ordnung (welche ihrerseits quasigrundrechtsgeschützte Stellung – indirekt – erlangen) im Verhältnis zu demokratisch ergangenen staatlichen Entscheidungen unter Rechtsschutz. Die Abfassung gerade eines derartigen Grundrechts verwirklicht zweierlei Ziele. Einmal den Prozess der sukzessiven Erneuerung und Ausfüllung des Grundrechtskataloges mit Rechtsmustern, die sich auf Erkenntnisse der ökologischen, friedenspolitischen und human-sozialen Gesellschafts- und Globalentwicklung stützen, im Wege einer adäquaten, sachdienlichen und unverzögerten Bedürfnisbefriedigung zu sparen. Am Rande sei vermerkt, dass eine ständige staatsautoritative Aufstockung von Grundrechten, wiewohl die grundlegende Tendenz durchaus begrüßenswert ist, den so verwirklichten Grundrechten unvermeidlich hoheitlich-direktiven Charakter verleiht und dadurch inhaltliche Defizite aufzuweisen Gefahr läuft. Ein anderes, dass die subjektiv-öffentliche Stellung des durch das erörterte Grundrecht Geschützten, einen für die Staatsordnung nicht weiter bedrohlichen Anreiz zur Teilnahme des Staatsbürgers am demokratischen Meinungsbildungsprozess liefert. Dass diese These zunächst gegen staatliche Autorität revoltierend klingen mag, verdankt der Autor nicht seiner (Zivil-) Courage, sondern der Tatsache, dass obrigkeitsstaatliches Denken ein politisch suggeriertes Surrogat für demokratische Einsichten zu sein scheint. Für Staaten, die die historische (bürgerliche) Revolution verzeichnen konnten, wird dieses bloß in weit abgeschwächter Form gelten. Ohne Abschweife kann gesagt werden, dass der demokratische Staat eben dasjenige zu bieten hat, was von der bereits appostrophierten Mehrheit gewünscht wird. Unter den obigen Darlegungen ist ersichtlich, dass mit der Mehrheitsregel zur Lösung weitreichender Fragen, nicht das Auslangen gefunden werden kann. Ein Grundrecht auf zivilen Ungehorsam füllt eben jene Lücke, die aufgezeigt wurde. Mit einem Angriff auf staatliche Regelungskompetenz hat dies nur genealogisch zu tun, da der Einklang mit der österreichischen Staatsordnung vollkommen gewahrt wird. Die Verankerung des Rechts auf zivilen Ungehorsam in der Rechtswelt des Grundrechtskatalogs ist deshalb indiziert, da nur dieserart die Vorrangigkeit gegenüber einfachgesetzlich legalisiertem staatlichen Verhalten zutreffend signalisiert und gewährleistet werden kann. Vorstellungen, ein inhaltlich entsprechendes Instrument der Rechtfertigung individueller gegenüber staatlicher Entscheidung andernorts unterzubringen, gehen sowohl dogmatisch als auch systematisch fehl. Das angesprochene Grundrecht schafft eben einen von der einfachgesetzlichen Welt abgehobenen Maßstab. Es liefert zwar den Rechtsmäßigkeitsgrund für eine relative Ausnahmesituation, will aber inhaltsmäßig nicht mit der Maßgabe einfachgesetzlich gestützten Handelns konkurrieren. Wir finden selbiges Prinzip in der Abwägung des Grundrechts auf persönliche Freiheit mit Indikativen zur Verhaftung, Anhaltung, Festnahme etc. von Personen. Eine Verankerung im Grundrechtskatalog ist die einzige zweckmäßige Durchsetzung dieses Rechts, da sonst eine Fülle von unüberschaubaren, auf positive Sachverhalte abgestellten und zumindest tendenziell widersprüchlichen Spezialnormen zur Durchsetzung dieses Rechts zu schaffen wären, ohne dass zugleich gesagt werden könnte, dass die Vorrangigkeit dieser Bestimmungen gegenüber in Konflikt stehenden Normen gewahrt wäre. Abschließend soll kurz die Betrachtung angestellt werden, worin das Bedürfnis liegt, den „sozialen Antrieb“ zivilen Ungehorsams sozusagen postwendend zum – noch dazu positivierten – Recht zu erklären. Der Rechtspraktiker weiß, dass die Begriffe „Anspruch“ und „Recht“, soweit dieselben in rechtlichem Zusammenhang geäußert werden, synonym, inhaltsgleich sind. Anspruch ist Recht, welches seine Durchsetzung fordert, was wiederum Begriffsmerkmal des Rechts ist. Eine Absonderung dieser Begriffe ist wenig zielführend. Da nun zu beantworten ist, inwieweit ziviler Ungehorsam Anspruch, daher Recht sein kann, wird nochmals auf obige Darstellung verwiesen. Im Bereich des Konflikts demokratischer (Mehrheits-)Entscheidungen mit legitimen, vom Staat zu wahrenden Interessen, die nur deshalb – zunächst und scheinbar – nicht tragfähig sind, weil denselben ihre Positivierung fehlt, ist zu erkennen, dass positives Recht in seiner Legitimität eben nicht trägt, als ebenso legitimer präpositiver Anspruch. Setzt man den Fall, dass positives Recht mit seinem Antipoden außerhalb der Satzung im Widerspruch steht, ist für sich noch nicht zu erkennen, welchem Interesse gefolgt werden soll (muss). Im Verhältnis zum zivilen Ungehorsam ist der aufgezeigte Dissens weder dramatisch noch wirklich theoretisch. Erinnert sei daran, dass eben ziviler Ungehorsam in seiner bereits angeführten Umschreibung eine durch Verhalten verstärkte Willensäußerung als sozusagen ultimatives Remedium verkörpert. Eine konkrete autoritär-demokratische Entscheidung soll wegen ihres Beschneidens wesentlicher allgemeiner Interessen aus dem beschriebenen Muster und wegen des (noch) nicht abgelaufenen Erkenntnisprozesses der dafür zuständigen staatlichen Einrichtungen über so erfolgenden Protest im Wege des Umschwungs der maßgeblichen Einschätzungen falsifiziert werden. Der zivilen Ungehorsam leistende Bürger ist unter der Voraussetzung der Erfüllung dieses Instituts der Allgemeinheit und dem demokratisch verwirklichten Staat dienlich. Unbillig wäre, dem wenn auch nur durch Personenmehrheit partiell auftretenden Souverän, schlichter dem Staatsbürger Strafe und Kritik für eben diesen Hilfsdienst zuzumessen. Das in Österreich vorherrschende, im Staat erscheinende Gemeinwesen leidet unbestreitbar unter großen Defiziten in den Prozessen der Rechtssetzung und der Rechtsvollziehung. Die Zeit gebietet daher zur Abhilfe ein weder das demokratische Gefüge störendes noch die staatliche Autorität und insbesondere das Gewaltmonopol in Frage stellendes Mittel zu verwirklichen, welches, soweit erkennbar, unter noch näher zu formulierenden Prämissen vergleichsweise am besten geeignet ist, dagegen anzutreten. Die österreichische Grundrechtsordnung und das verwirklichte Demokratiemodell wären durchaus mit Schaffung eines Grundrechts auf zivilen Ungehorsam bereichert.