In diesem Artikel setzt sich der Autor mit verschiedenen Entwürfen zur Wahlrechtsreform auseinander und stellt schließlich einen Antrag zur Novellierung der Nationalrats-Wahlordnung vor, den er für den Grünen Klub erarbeitet hat. In der seit 1987 andauernden Auseinandersetzung um die Reform der Nationalratswahlordnung geht es oft nur um juristisch und technisch Machbares; die Einbindung von Soziologen, Politikwissenschaftlern und Demoskopen findet nicht statt, sofern sie nicht aus den eigenen Parteistallungen stammen.
Gleichfalls wird das große Thema der „Personalisierung“ nicht problematisiert, die erwünschten Abgeordnetenrollen, die eigentlich Ausgangspunkt und Zielvorgabe für eine derartige Änderung sein sollten, werden nicht benannt. Bestenfalls stecken sie implizit im Buchstabendickicht des gerade vorgelegten Reformpapiers und werden dann ein Vierteljahr später wieder verworfen. Entsprechend flau und oft niveaulos gestaltet sich für den interessierten Beobachter das, was von einigen beschönigend Wahlrechtsreformdiskussion genannt wird. Dabei wäre gerade die Klärung der Frage, ob und inwieweit der Abgeordnete ein Mandatar einer größeren oder kleineren Region, seiner Partei, der Vertreter inhaltlicher Positionen und innerparteilicher Gruppen oder der von seinen Wählern mit Vertrauen ausgestattete Akteur sein soll, entscheidend für die Gestaltung eines Persönlichkeitswahlrechtes.
Doch hinter den Lippenbekenntnissen steckt meist nur der Wunsch, bisherige Aufstellungs- und Rekrutierungsmuster für die Kandidatenerstellung und die dadurch bedingte Abhängigkeit der Mandatare beibehalten zu können. Für die tagespolitischen Auseinandersetzungen müssen folgende Wahlrechtsmodelle immer mitgedacht werden: Das Kohlmaier-Neisser-Modell, das unter der Ägide der beiden genannten für die ÖVP erstellt wurde. Es sieht die Unterteilung der vier jetzigen großen Wahlkreise - Wien, Niederösterreich, Oberösterreich, Steiermark - in kleinere Wahlkreise, wie etwa Innviertel oder Südoststeiermark vor, in denen wie derzeit nach Hare die Grundmandate ermittelt werden sollen. In Anlehnung an das Südtiroler Vorzugsstimmensystem werden die Grundmandate den Bewerbern mit den höchsten Vorzugsstimmensummen zugewiesen. Die vier großen Bundesländer bilden für ihre Wahlkreise einen Wahlkreisverband, innerhalb dessen anhand der Reststimmen und Restmandate, abermals nach Hare, Landeslistenmandate ermittelt werden. Die Bundeslistenmandate werden wie bislang in den Wahlkreisverbänden Ost und West vergeben. Dieses Modell hätte sicherlich eine radikale Stärkung des Persönlichkeitselements gebracht - auch innerparteiliche Minderheiten und bei der Kandidatenaufstellung zu kurz gekommene Gruppen könnten ihre Kandidaten durch Vorzugsstimmenwahlkampf „reinbringen“ - hat aber einen starken Nachteil: Da im Papier keine zum Grundmandat alternierende bundesweite Prozenthürde vorgesehen ist, wäre der Einzug in den Nationalrat an die Erringung eines Grundmandates geknüpft, was aufgrund der erhöhten Zahl der Wahlkreise und der damit im Schnitt niedrigeren Zahl von Mandaten im Wahlkreis deutliche Probleme für kleine und neue Gruppen bedeutet hätte. Umgelegt auf 1983 hätte die FPÖ nur ein Kärntner Grundmandat erreicht, 1986 wäre die GA an dieser Bestimmung gescheitert.
Als nächstes kam dann schon der erste Entwurf der großen Koalition (die ÖVP hatte sich während der Regierungsverhandlungen sehr rasch des der innerparteilichen Mehrheit unheimlichen Vorschlages - man denke an die Probleme mit dem Bündnisproporz - entledigt) von 1987. Dieser sah eine näher nicht ausgeführte Anzahl von Einerwahlkreisen vor, die auch gleich schon über eine Verfassungsbestimmung festgeschrieben werden sollten, während überall sonst, wo Einerwahlkreise existieren, Kommissionen damit beauftragt sind, nach jeder Volkszählung diese neu einzuteilen, um eine gerechte Stimmengewichtung zu sichern. Der Bewerber mit den meisten Stimmen im Einerwahlkreis sollte direkt gewählt sein. Allerdings hat das einen gehörigen Schönheitsfehler: der Wähler soll nach diesem Entwurf eine Partei und/oder den Kandidaten dieser Partei wählen können - nicht aber den Kandidaten einer anderen Partei oder einen Unabhängigen, womit das Primat der Parteidisziplin und -wahl gesichert und das „Persönlichkeitselement“ für die „Würscht“ wäre. Denn Persönlichkeitswahl ist nun wohl eher dann gegeben, wenn ich unabhängig von meiner Parteipräferenz den mir - aus welchen Gründen auch immer - am besten scheinenden Kandidaten meines Einerwahlkreises wählen kann und nicht gezwungen werde, jemand, den ich für eine Null oder eine Niete halte, meine Stimme zu geben bzw. bestenfalls nicht zu geben, wenn also Kombinationen à la Bruckmann-GA, Sohn-SPÖ, Pilz-KPÖ, Buchner-FPÖ und was man sich sonst noch einfallen lassen mag, möglich sind. Ferner sah der erste Koalitionsentwurf eine bundesweite 3%-Hürde vor, die die Grundmandatsbarriere ersetzen sollte. Gruppen, die unter der 3%-Marke liegen, nach jetzigem Wahlrecht aber schon Grundmandate haben, wären dann auch draußen, sofern sie kein Direktmandat machten. Schließlich sollte der bundesweite Proportionalausgleich nach d’Hondt vorgenommen werden. Ausgangslage für die Anzahl der Wahlkreise war die im Koalitionsübereinkommen festgeschriebene Zahl von 100. Doch bald schon sank die Zahl auf 90, und sank und sank schließlich auf 61, was nur noch einem Drittel der Nationalratsmandate entspricht.
Der Hauptgrund hierfür war die Gefahr von Übergangsmandaten: Verliert etwa die Tiroler VP Stimmen, bleibt aber stärkste politische Kraft, so kann es passieren, dass ihr mehr Direktmandate als Grundmandate zufallen. Und was in diesem Fall tun? Die überschüssigen Mandate überschüssige Mandate sein lassen? Das brächte mit Sicherheit den Vorwurf, die Koalition wolle sich zusätzliche Mandate verschaffen. Anrechnung auf die Bundesmandate? Von denen gibt es bereits jetzt zu wenig, um alle „Notwendigkeiten“ versorgen zu können. Also: Reduktion der Mandatszahl. Zusätzlich war in diesem Papier auch noch die Verfünffachung der Zahl der für eine Kandidatur erforderlichen Unterstützungsunterschriften vorgesehen, mit anderen Worten: die nahezu völlige Ausschaltung unliebsamer politischer Konkurrenz und das Einfrieren der Parlamentsparteien auf SP, VP, FP und GA.
Danach folgten einige kleinere Papiere, bis Verhandlungen zwischen VP und Löschnak ein Ergebnis brachten, das von der VP-Nationalratsfraktion nun auch als Initiativantrag eingebracht wurde. Dieser sieht vor: In den neun Wahlkreisen werden 27 Regionalwahlkreise eingerichtet (je 5 in W und OÖ, je 4 in NÖ und St, 3 in Tirol, je 2 in S und K, einer in V und B). Anhand der Wahlzahl des Wahlkreises wird die Anzahl der Regionalmandate einer Partei im Regionalwahlkreis ermittelt. Bewerber, die 15 % der Parteistimmen an Vorzugsstimmen erhalten, werden vorgereiht, ansonsten halten die Bewerber in der Reihenfolge des Regionalwahlvorschlags in den Nationalrat Einzug. Alternierend zur Grundmandatshürde gibt es eine bundesweite 4%-Hürde. Der Bundesaussgleich erfolgt nach d’Hondt. Nun aber (endlich) zum vom Grünen Parlamentsklub eingebrachten Wahlrechtsänderungsvorschlag. Zielvorstellungen für die Erstellung des Antrags waren: das Bekenntnis zur Person als Träger politischen Handelns, daraus resultierend die Stärkung des Wählers auf die Kandidatenreihung und die Möglichkeit, mehrere Bewerber verschiedener Parteien wählen zu können. Zur Erhöhung der Legitimation parlamentarischer Entscheidungen die Ausweitung des Kreises der Wahlberechtigten. Die exakt möglichste Umsetzung des Wählerwillens in Mandate.
Der Antrag im Detail: Das aktive Wahlalter soll auf 16 gesenkt werden, der Wahlausschließungsgrund der gerichtlichen Verurteilung entfallen. Das passive Wahlalter soll auf 19 gesenkt werden. Die neuen Wahlkreise bleiben bestehen, es werden 21 Wahlbezirke eingerichtet (OÖ 5, NÖ und St 4, W 3, restliche je einer) in denen Bewerber verschiedener Parteien und Unabhängige sich dem Wähler stellen. Auf die Wahlbezirke werden 133 der 183 Nationalratsmandate aufgeteilt, der Wähler kann bis zu so viele Stimmen, wie es einem Drittel der Anzahl der Mandate des Wahlbezirks entspricht, vergeben, mindestens aber zwei (eine Vorkehrung für die kleinen Wahlbezirke) - und das, wie bereits eingangs erwähnt, unbeschadet verschiedener Parteizugehörigkeiten und seiner Parteipräferenz Personenstimmen vergeben.
Aus der Summe aller Personenstimmen wird hiernach nach Hagenbach-Bischoff die Wahlzahl des Bezirks gefunden. Kandidaten, die mindestens so viele Stimmen erhalten, sind im Wahlbezirk direkt gewählt. Hagenbach-Bischoff bietet die Möglichkeit, dass prinzipiell (sofern genügend Kandidaten die erforderliche Stimmenzahl erreichen) alle Wahlbezirksmandate auch im Wahlbezirk vergeben werden können. Der Rest wird auf die Landes- und Bundesmandate aufgeteilt. Diese erhalten die Parteien und Listen anhand der Reststimmen und der Anteile aus den Wahlbezirken nach d’Hondt (nach Auswertung der Reststimmen der Partei im Bund), wobei der Vorzugsstimmenproporz zum Tragen kommt. Das heißt, Listenbewerber werden je nach ihren prozentualen Vorzugsstimmenanteilen gereiht, so dass es keine Unterschiede zwischen den Parteien gibt und der Wähler auf diese Reihenfolge gezielt einwirken kann. Es gibt keine Prozenthürde. Durch den unbedingten Vorzugsstimmenproporz wird die Möglichkeit der Mehrfachkandidatur eliminiert. Da es keine Prozenthürde gibt und die Zahl der Mandate zu unterschiedlich ist, können Direktmandate einer Partei nicht auf die Landes- und Bundesmandate angerechnet werden. Unabhängige, die nicht mehr als zwei Mandate erzielen, und solche, die nicht aufgrund von Vorzugsstimmenmandaten in den Nationalrat einziehen, sind von der Reststimmenverteilung ausgenommen. Die Kandidatur soll durch die Beibringung von 1000 Unterstützungserklärungen pro Wahlbezirk möglich sein. Es wird eine in Zusammenarbeit mit den Erstellern des HG-Verzeichnisses zu schaffende Stichtags-Wählerevidenz eingeführt. Jeder Wahlberechtigte, der nicht das Haus verlassen kann oder will, kann durch eine Wahlkarte und ein von zwei Zeugen unterzeichnetes Wahlrecht teilnehmen. Die Briefwahl für Auslandsösterreicher und eine Erweiterung des Wahltags von Montag bis Freitag ist geplant. **Der Antrag im Detail:**
Das aktive Wahlalter soll auf 16 gesenkt werden, der Wahlausschließungsgrund der gerichtlichen Verurteilung entfallen. Das passive Wahlalter soll auf 19 gesenkt werden. Die neuen Wahlkreise bleiben bestehen, es werden 21 Wahlbezirke eingerichtet (OÖ 5, NÖ und St 4, W 3, restliche je einer), in denen Bewerber verschiedener Parteien und Unabhängige sich dem Wähler stellen. Auf die Wahlbezirke werden 133 der 183 Nationalratsmandate aufgeteilt. Der Wähler kann bis zu so viele Stimmen vergeben, wie es einem Drittel der Anzahl der Mandate des Wahlbezirks entspricht, mindestens aber zwei (eine Vorkehrung für die kleinen Wahlbezirke) – und das, wie bereits eingangs erwähnt, unbeschadet verschiedener Parteizugehörigkeiten und seiner Parteipräferenz Personenstimmen vergeben.
Aus der Summe aller Personenstimmen wird hiernach nach Hagenbach-Bischoff die Wahlzahl des Bezirks gefunden. Kandidaten, die mindestens so viele Stimmen erhalten, sind im Wahlbezirk direkt gewählt. Hagenbach-Bischoff bietet die Möglichkeit, dass prinzipiell (sofern genügend Kandidaten die erforderliche Stimmenzahl erreichen) alle Wahlbezirksmandate auch im Wahlbezirk vergeben werden können.
Die Grundmandate werden nach Hare ermittelt. Von ihnen wird die Anzahl der Wahlbezirksmandate einer Partei im Wahlkreis substrahiert. Auf die so verbleibenden Landeslistenmandate kann der Wähler mittels seiner Vorzugsstimme Einfluss ausüben: Kandidaten, die zumindest 15% der Wahlzahl oder 3% der Parteistimmen erreichen, werden vorgereiht. Unter der Annahme, dass das Wahlverhalten unter dieser Vorzugsstimmenregelung gleich geblieben wäre, hätten bei der Wahl 1986 immerhin bereits 7 Kandidaten diese Hürde übersprungen (wenngleich vier davon auch Spitzenkandidaten der Parteien sind). Würde eine derartige Regelung jedenfalls eingeführt, ist meines Erachtens für viele Wähler ein Stimulans, sich des Instruments der Vorzugsstimme zu bedienen.
**Bundesweite Mandatsermittlung:**
Die Ermittlung des endgültigen Mandatsstandes erfolgt nach dem System Niemeyer ohne Grundmandats- oder Prozenthürden. Das hätte für die Nationalratswahl von 1983 folgenden hypothetischen Mandatsstand gebracht (in Klammern das Ergebnis nach der jetzigen NROW): SPÖ 87 (90), ÖVP 79 (81), FPÖ 9 (12), VGÖ 4 (3), ALÖ 3 (0), KPÖ 1 (0).
Und nun etwas ausführlicher der Mandatsstand, der sich ergeben hätte:
- Spalte 1: Parteikurzbezeichnung; MIR = Aktionsliste "Mir reicht's", GAL = Die Grünalternativen-Demokratische Liste, KG = Kärntner Grüne
- Spalte 2: Bundesweite Parteistimmen
- Spalte 3: Bundesweite Stimmprozente
- Spalte 4: Quotient bei Division mit Wahlzahl
- Spalte 5: Mandatszahl nach Grünen-Entwurf
- Spalte 6: Mandatsprozente nach Grünen-Entwurf
- Spalte 7: Mandatszahl nach jetziger NRWO
- Spalte 8: Mandatszahl nach NRWO
- Spalte 9: Differenz der Mandatszahlen zwischen Grünen-Entwurf und NRWO
Besonderes Augenmerk bitte ich auf die Spalten 3, 6 und 8 zu legen, deren Vergleich den Verdacht, der Grüne Klub wolle sich ein zusätzliches Mandat zuschanzen, eindeutig widerlegt. Für die bundesweite Mandatsermittlung können Parteien ihre Listen miteinander koppeln, das heißt, dass für die Mandatszuweisung ihre Stimmen wie die einer einzigen Partei behandelt und danach mit einer koppelungsspezifischen Wahlzahl wieder nach Niemeyer – auf die Koppelungspartner aufgeteilt werden.
Zusammengefasst: Ziel des Grünen Antrages ist es, den Wähler wieder wählen zu lassen und ihm die Gewissheit zu geben, dass seine Stimme zählt, sei es nun seine Parteipräferenz, die durch Hürden ungehindert sehr bald ihren exaktesten möglichen Niederschlag in Mandaten findet, sei es nun seine Präferenz für Kandidaten einer anderen als von ihm gewählten Partei, sei es seine inhaltlich und/oder persönlich begründete Vorliebe für Kandidaten der von ihm gewählten Partei.
In Österreich sind viele Entscheidungsprozesse vom Parlament Richtung Sozialpartnerschaft und Parteizentralen ausgelagert. Das oben beschriebene Modell soll den direkt gewählten Mandataren auch wirklich ein Mandat geben, sei es ideologisch, regional oder ad personam bedingt, und ihnen den Rücken gegenüber den außerparlamentarischen Apparaten stärken. Es soll Parteien stärkeren Wettbewerbsstress und damit auch (vielleicht) stärkeres inhaltliches Profil bringen (nach jetzigem Stand wäre bei den Oktoberwahlen zumindest mit dem Einzug von KPÖ und VGÖ zu rechnen) sowie innerparteiliche Profile klarer hervortreten lassen.
Dass ein solcher Antrag nur wenige Freunde in den Gremien, die ihn beschließen müssten, haben kann, ist klar. Viel eher ist ein Facelifting des Wahlrechts (etwa im Sinne eines Modells mit Einer-, Zweier- oder Dreierwahlkreisen) zu rechnen, das den Zugriff und die Abhängigkeit des Mandatars von der Partei sichert und den beschließenden Parteien demokratiepolitische Pseudolegitimation liefert. So ist das Leben.