Die legendäre Studie "Grenzen des Wachstums" des Club of Rome läutete 1972 auf der Ebene der Theorie die Ökologiebewegung ein. Ein ähnlicher Wurf war auch für den Bereich der Demokratie geplant gewesen. "Grenzen der Herrschaft" hätte das analoge Projekt des Club of Rome für diesen sensiblen Themenbereich werden sollen. Das Unternehmen erwies sich als zu komplex und vielschichtig. Ein Teilergebnis wurde Anfang 1989 vorgelegt: Das Buch "Grenzen der Herrschaft" von Jaroslaw Langer, erschienen im Westdeutschen Verlag, Opladen. Der Autor ist Tscheche, lebt seit mehr als 20 Jahren im Exil in der BRD, deren Staatsbürger er mittlerweile geworden ist. Langer hat in den letzten 50 Jahren fast alle Typen moderner Herrschaftsstrukturen am eigenen Leib erfahren und meist auch erlitten. Die klassische Demokratie der Vorkriegs-CSR, das polnische Obristenregime Pilsudskis, das stalinistische System in der Sowjetunion, die Schrecken der NS-Herrschaft, die "Volksdemokratie" und den "Realsozialismus" der Nachkriegsordnung Europas sowie die "soziale Marktwirtschaft" Österreichs und der Bundesrepublik. Gestützt auf solch reichhaltige Erfahrungswerte hat Langer in 16-jähriger Arbeit dieses Buch geschrieben. Die grundlegenden Positionen wurden von dem Autor in Hinblick auf die Demokratien des Westens bereits vor 1968 entwickelt, wurden aber während des "Prager Frühlings" zum ersten Mal wirksam. Langer wurde Verfasser des Programms der "Klubs engagierter Parteiloser", die sich in jenen bewegten Tagen des Jahres 1968 zu formieren begannen. Diese Klubs, die nach Schätzung etwa 40.000 bis 150.000 Teilnehmer erfassten, sind im Westen nur wenig bekannt. Kein Wunder, wurde die Geschichte des "Prager Frühlings" doch hauptsächlich von ehemaligen Reformkommunisten geschrieben, denen dieses neue Phänomen reichlich fremd und schwer verständlich erschien - Bürgervereinigungen, die politische Partizipation ohne Parteigründung und Kampf um Anteile politischer Macht anstrebten. Was sind nun die Hauptaussagen Langers? Der Untertitel des Buches gibt Auskunft darüber. "Die Endzeit der Machthierarchien" fasst Langers grundlegende These bereits zusammen: Der Autor konstatiert eine dreifache Neige: zum einen leben wir an der Neige von drei unterschiedlich langen Entwicklungsperioden der menschlichen Gesellschaft: der etwa 1000-jährigen Entwicklung des modernen Parteistaates, der etwa 200-jährigen Periode des modernen repräsentativen Systems und der 4000 bis 6000-jährigen Entwicklung der machthierarchischen Strukturen der menschlichen Gesellschaft. Zum besseren Verständnis seiner Aussagen entwickelt Langer eine eigene Terminologie. Ein zentraler Begriff ist z.B. die "Machtbandbreite". Darunter versteht der Autor das Mindestmaß an Verfügungsgewalt, das ein Herrscher oder eine Herrschaftsgruppe in einer machthierarchischen Gesellschaftsstruktur über den einzelnen Untertan besitzen und ausüben muss, damit diese Struktur noch funktionsfähig bleibt. Diese Machtbandbreite hat sich seit den Anfängen machthierarchischer Strukturen ständig verringert, bis sie im modernen Parteienstaat, den Langer als die letzte Herrschaftsstruktur in der langen Entwicklungsreihe der machthierarchischen Gesellschaftsstrukturen betrachtet, so schmal geworden ist, dass eine machthierarchische Struktur mit noch geringerer Machtbandbreite nicht mehr funktionsfähig wäre. Langer sieht also den grundlegenden Widerspruch unserer Epoche in der abnehmenden Bereitschaft der Menschen, Untertan zu sein, und der Bandbreite etablierter Macht. Er kommt zu folgendem Schluss: "Die Aufgabe, die unsere Zivilisation zu bewältigen hat, wenn sie in nächster Zukunft nicht zusammenbrechen soll ... liegt ... in der Erstellung und späteren Verwirklichung eines realisierbaren Gesellschaftsmodells, in dem die bisherige machthierarchische Herrschaftsstruktur durch eine neue, autoritätshierarchische Struktur abgelöst würde." (S. 18) Damit ist eine weitere Spezialität Langers angesprochen: die Unterscheidung zwischen Macht und Autorität. Während Langer echte Autorität als Ausdruck der (verdienten) Anerkennung von Fähigkeiten, Sachkompetenz und ethisch-moralischer Integrität einer Person oder Institution positiv bewertet, steht er der Macht ablehnend gegenüber. Macht ist laut Langer "die reale Möglichkeit des Menschen, ein anderes Lebewesen dazu zu zwingen, dass es ohne oder gegen dessen Willen etwas tut, duldet oder unterlässt, was es sonst aus eigenem Willen nicht tun, unterlassen oder dulden würde. Die Realisierung dieser Möglichkeit, d.h. die Anwendung der Macht über andere, ist die Gewalt." (S. 28) Folgerichtig stellt Langer dem Typus des mit echter Autorität ausgestatteten Autoritätsmenschen den Typus des institutionell abgesicherten Machtmenschen gegenüber. In den ersten fünfzehn Kapiteln seines Buches legt Jaroslaw Langer eine unerbittliche Analyse unseres gegenwärtigen Parteienstaates vor. Er arbeitet jene strukturimmanenten Mechanismen heraus, die zu den unglaublichen Versäumnissen und in jeder Weise begrenzten Problemlösungskapazitäten führen, die so charakteristisch sind für die amtierenden Regierungen, unabhängig davon, aus welchen Parteien sie sich gerade zusammensetzen. Langer stellt bei aller Schärfe der Kritik unmissverständlich klar, dass die repräsentative pluralistische Demokratie allen anderen bisherigen Herrschaftsformen vorzuziehen ist. Er zeigt aber auch auf, wie sehr sie Herrschaftsform und wie wenig sie Demokratie ist. Er zeichnet nach, wie durch das Überwuchern der Parteien die alte, "klassische" Funktion des Parlaments als Kontrollorgan gegenüber der Regierung aufgehoben und die idealtypisch postulierte Gewaltenteilung ad absurdum geführt wurde. Langer skizziert die Funktion von Parteien als bloße Organisationsformen des Machtgewinns und Machtkampfs, deren Eigendynamik die ursprünglichen Ziele und Forderungen längst in den Hintergrund hat treten lassen. Langer lässt es nicht dabei bewenden, im Analyseteil seines Buches die strukturelle Bedingtheit der Krise des gegenwärtigen politischen Systems aufzuzeigen. Er entwickelt auch Perspektiven für die Zukunft. In den Schlusskapiteln des Werkes breitet er die Grundzüge einer herrschaftsfreien oder akratischen Organisation der Gesellschaft, wie er sie anstrebt, vor den Augen des Lesers aus. Jaroslav Langer erläutert das "Resonanzprinzip", mit dessen Hilfe alternative Ideen Boden fassen und Verbreitung finden können. Er entwirft Konturen eines basisdemokratischen Netzwerks aus sogenannten KANs (Klubs alternativer Nonkonformisten), das allmählich die machthierarchischen Institutionen zurückdrängen und eine neue politische Kultur schaffen könnte, die die Ohnmachtsgefühle der von den Entwicklungen zu recht verängstigten Bürgerinnen und Bürger aufzuheben und einen Prozess der permanenten Selbstaufklärung der Bürgerbasis einzuleiten imstande wäre. Selbstverständlich kann das Buch Langers nicht Antworten auf alle aufgeworfenen Fragen geben. Es bietet keine fertigen Rezepte zur problemlosen Errichtung einer basisdemokratischen Gesellschaft. Der Autor lässt den so heiklen und wichtigen Bereich der Sozialpolitik unbeleuchtet und geht auf wirtschaftliche Zusammenhänge nur wenig ein. Die Rolle der engagierten Intellektuellen wird in dem Buch deutlich überbewertet. Alles in allem ist Langers "Grenzen der Herrschaft" ein wichtiger und inhaltsreicher Beitrag zur längst überfälligen Demokratiediskussion in Österreich. Die gewaltigen Umbrüche im ehemals realsozialistischen Teil Europas stellen die Frage der Demokratisierung von Gesellschaften in dramatischer Schärfe. Allen, die sich dieser Herausforderung auch auf einer theoretischen Ebene stellen wollen, sei das Buch Langers bestens empfohlen.
JAROSLAV LANGER
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In der Grünen Bildungswerkstatt läuft ein Arbeitskreis Demokratie, der sich derzeit mit
dem Buch beschäftigt