Korrigierter Text: Im Zuge der Umwälzungen in den osteuropäischen Ländern in den letzten Monaten wurde immer wieder die Meinung vertreten, dass sich durch den Wunsch der Revolutionäre nach Etablierung demokratischer Systeme erneut die Überlegenheit des "Westlichen" erwiesen habe. Freiheit, Pluralismus und die Deckung materieller und kultureller Bedürfnisse könnten, das habe sich bestätigt, nur in den demokratisch verfassten Gesellschaften westlicher Prägung gewährleistet werden. Demokratie-Euphorie und Markt-Enthusiasmus tendieren dazu, skeptische Analysen der Schwachstellen demokratischer Systeme zu ersticken und damit den Weg zu Verbesserungen aufgrund fundierter Kritiken zu verlegen. Umso erfreulicher ist es, wenn die Leserin ein Buch in die Hand bekommt, das hilft, eigene Fragen zu präzisieren, ohne durch allzu bestimmte Antworten zu präjudizieren.
Ein solches Buch ist, so glaube ich, der hier vorgestellte Sammelband "Die Zukunft der Demokratie" von Norberto Bobbio. Außerdem macht es der Juristin, die den Juristenstil gewöhnt ist, großen Spaß, endlich einmal wieder Theoretisches elegant geschrieben zu lesen. Über den Autor Bei uns ist Norberto Bobbio weitgehend unbekannt, was daran liegen mag, dass seine Schriften nicht ganz leicht zugänglich sind - in der Wiener Fakultätsbibliothek für Rechtswissenschaften gibt es nur drei seiner Werke (und die nur auf Italienisch). Daher ist es sehr erfreulich, dass es mit dem vorliegenden Sammelband jetzt leichter sein wird, diese Kenntnislücke zu schließen. In sechs Artikeln kann sich die Leserin über grundlegende Positionen der politischen Philosophie Norberto Bobbios informieren. Sie werden durch eine kurze Notiz über den Autor und durch eine Auswahlbibliographie (leider sind keine Übersetzungen angegeben) ergänzt. Bobbio steht in der Tradition des "socialismo liberale", in dem die Forderung nach Gewährung der liberalen Freiheitsrechte mit den Zielen der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammengefasst werden sollte. Was an der bürgerlichen Gesellschaft in Ordnung war und was vom Sozialismus als gut erkannt wurde, sollte zusammen eine bessere und stabilere Verfassung für den Staat ergeben. Eine minimale Definition von Demokratie "Diese Idee" (die in ähnlicher Weise auch von H. Heller entwickelt wurde) war die Reaktion auf den Beginn des Faschismus und auf die Unfähigkeit sowohl des bürgerlichen Lagers als auch der Linken, seinen Vormarsch zu stoppen.
Das Verfahren dieser Verfassung zum Erreichen des vorgestellten Zustandes ist gleichzeitig die Minimaldefinition von Demokratie: Möglichst viele Bürgerinnen und Bürger nehmen durch Wahlen am Staat teil, sie entscheiden je nach Wichtigkeit der Angelegenheit mit Mehr- oder Einstimmigkeit entweder direkt über Sachfragen oder darüber, wer an ihrer Stelle Sachfragen regeln darf. Nach Bobbio muss allerdings noch eine dritte Bedingung dazu kommen, um dieses System zu einer Demokratie zu machen. Für die Richtigkeit der getroffenen Entscheidungen ist es notwendig, dass die Entscheidenden Möglichkeiten zur Wahl zwischen realen Alternativen bekommen. Diese Bedingung kann nur erfüllt werden, wenn die Wählerinnen und Wähler gegenüber dem Staat zumindest die klassischen liberalen Freiheitsrechte haben: Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit. Der Staat, der sich zur Demokratie entwickeln soll, muss schon vorher ein liberaler Rechtsstaat sein. Bobbio sieht also diese Grundfreiheiten als Bedingung für Demokratie und nicht umgekehrt. Das gibt zu denken: Wenigstens im Modell müsste dann jeder Staat zum Einüben der Grundrechte eine (wenigstens kurze) vor-demokratische, aber liberale rechtsstaatliche Phase durchmachen. Bobbio wurde 1983 vom spanischen Abgeordnetenhaus, der Cortes, eingeladen, um über die Zukunft der Demokratie zu sprechen. Er verfehlte sein Thema ganz offenherzig: "Wenn Sie mich fragen, ob die Demokratie eine Zukunft hat und, gesetzt den Fall, sie hat eine, welcher Art auch diese Zukunft ist, so kann ich nur in aller Ruhe antworten: Ich weiß es nicht." Worüber er allerdings Bescheid weiß, das sind die aktuellen Gefahren, die eine Zukunft für die Demokratie zunichte machen könnten. Hat die Demokratie Zukunft? Was sind die nicht eingehaltenen Versprechen der Demokratie.
Bobbio nennt einige dieser Versprechen, die sich an Idealen messen lassen müssen, die aber nur in vergröberter, materialisierter Form zu verwirklichen sind: Die ideale Demokratie sollte eine direkte Beziehung zwischen dem souveränen Volk und seinen Repräsentanten herstellen, ohne dass irgendwelche Körperschaften dazwischengeschaltet sind. Unsere Gesellschaften sind aber insofern pluralistisch, als zwischen dem Bürger und "seinem" Abgeordneten eine Vielzahl von Verbänden, Parteien, Vereinen etc. steht, die zusätzlich zum einen großen Machtzentrum "Volk" viele kleine Machtzentren bilden. Die Demokratie hat es nicht geschafft, diese "intermediären Entscheidungsträger" zu neutralisieren. Die Demokratie war außerdem auch nicht in der Lage, die "unsichtbare Macht" zu besiegen, obwohl sie doch die Herrschaftsform der Offenheit ist. Sie steht unter der Bedingung, dass ihre Handlungen sich mit der Maxime der Publizität vertragen: Unrecht ist, was man nicht in der Öffentlichkeit tun kann, ohne das Recht einer anderen Person zu verletzen: Idealerweise müsste das Resultat ein Staat sein, der alle seine Handlungen der Zeit durch Gerichte überprüfen lassen kann. Die Realität, das sehen wir zur Zeit in unseren Gerichtssälen, entspricht diesem Ideal überhaupt nicht.
Darüber hinaus gibt es Bereiche (halb)staatlichen Handelns - zum Beispiel die Wirtschaftslenkung durch öffentlichrechtliche Fonds -, die faktisch der Kontrolle entzogen sind und die daher auch der "unsichtbaren Macht" angehören. Je mehr von diesen "arcana" ans Licht gebracht werden, umso besser ist es also für die Demokratie. Es wäre zu wünschen, dass mit diesem Buch auch in Österreich eine ausführlichere Beschäftigung mit Bobbio beginnt.