Einer der deklariertesten und fundiertesten Befürworter individueller Freiheit ist hierzulande persona incognita. Während John Stuart Mill im angloamerikanischen Raum als einer der zentralen politischen und sozialphilosophischen Autoren und Geistermittel zwischen unserem und dem 18. Jahrhundert gilt, gibt es nichts, was wert wäre, eine österreichische Rezeptionsgeschichte genannt zu werden. Hierfür mag es wohl mehrere Gründe geben: das frühzeitige Ende eines eigenständigen Liberalismus in unserem Lande ebenso wie die starke aristokratische und katholische Tradition, der seine egalitären und individualistischen Ansichten zuwiderliefen; die positivistische Grundstimmung wie in den letzten Jahren - die Filterung aller englischsprachigen Philosophierezeption durch die Popperianer. 1806 geboren, stand Mill unter ständigem Bildungsdruck seines Vaters James Mill. Bereits im Alter von drei Jahren lernte er Griechisch, in den folgenden Jahren kamen Mathematik, Latein, Geschichte und andere Wissensgebiete hinzu, mit dreizehn schließlich die politische Ökonomie, in einer Zeit, als er sich bereits eigenständig mit Platon, Aristoteles und Hobbes auseinandersetzte. Unter dem Einfluss seines Vaters und Jeremy Benthams schloss er sich den utilitaristischen Radikalen seiner Zeit an, deren Ansichten auf den Utilitarismus Benthams, die Ökonomie Ricardos und die Bevölkerungstheorie von Malthus gründeten. Hauptforderungspunkte waren eine Reform der Staatsverfassung und umfassende Freiheit der Diskussion, um in Rede und Gegenrede die besten Lösungen für gesellschaftliche Probleme finden zu können. In den folgenden Jahren, auch aufgrund einer Gefühlskrise, rückte Mill etwas von den Benthamisten ab: in ihren für ihn zu rationalistischen und auf Eigennutz bedachten Glückskonzepten fehlte ihm die Komponente des Individuums ebenso wie ein nicht materielles Konzept von Glück. Zu diesem Zeitpunkt entwickelte sich auch seine deduktive Arbeits- und Argumentationsweise, galt es für ihn, anstelle von Postulaten über Mensch und Gesellschaft vom erfahrbaren Menschen und der erfahrbaren Gesellschaft auszugehen. Mit den Lektüren saint-simonistischer Schriften in den 1830ern und dem Beginn der großen Beziehung seines Lebens, Harriot Taylor, begann seine Entwicklung in Richtung dessen, was er später "Sozialismus mit Einschränkungen" nennen sollte, was sich in seiner Befürwortung von Intervention in die gesellschaftliche Verteilung unter speziellen Umständen zeigte. Mill unterstützte nun auch den kleinen radikalen Flügel der Whigs. Beginnend mit den 1840er Jahren erschienen seine Hauptwerke: System der Logik (1843), Prinzipien der politischen Ökonomie (1848), Über die Freiheit (1859), Über Utilitarismus (1863), Betrachtungen über die repräsentative Demokratie (1861), Unterdrückung der Frauen (1869). Von 1865 bis 1868 vertrat Mill den Wahlkreis Westminster im Parlament, wo er unter anderem für das Frauenstimmrecht und gegen die Todesstrafe eintrat. 1873 starb Mill in Avignon, wo er nach seinem Ausscheiden aus der Politik in einem Landhaus mit Blick auf das Grab Harriots gelebt hatte. Nachdem Mill in seinen Werken sehr stark auf das jeweilige Thema eingeht und sie nicht mit anderen seiner Schriften in Bezug setzt, ist sie für Systematisierung und Gesamtschau ziemlich schlecht geeignet, da ein in einem Werk stark vertretenes Prinzip in einem anderen eine Einschränkung erfahren kann, ohne dass explizit ausgeführt wäre, was dies für ersteres bedeutet. Daher wird immer wieder die Anschuldigung erhoben, sein Werk wäre eklektisch und inkohärent, während von anderer Seite entgegengehalten wird, dass eine differenzierte und subtile utilitaristische Argumentation in allen seinen gesellschaftstheoretischen Schriften zu finden sei und miteinander konfligierende Entwicklungslinien bei einem Werk, das viele Problembereiche behandelt, zwangsläufig auftreten und gegeneinander abzuwägen seien (welcher letzten Ansicht auch ich anhänge). Nichtsdestoweniger: hier der Versuch einer Zusammenfassung der wichtigen Punkte von Mills Sozialphilosophie: Entsprechend der utilitaristischen Grundprämisse soll sich die Gesellschaft auf das größtmögliche Ziel der größtmöglichen Zahl hin entwickeln, wobei im
Unterschied zur älteren utilitaristischen Schule Glück primär moralische und geistige Genüsse sind, wohl aber auch materielle zu verstehen sind. "...every writer, from Epicurus to Bentham, who maintained the theory of utility, meant by it, not something distinguished from pleasure, but pleasure itself, together with exemption from pain; and instead of opposing the useful to the agreeable or the ornamental, have always declared that the useful means this, among other things." (On Utilitarianism, p. 6). Dieses Konzept von Glück setzt zwei Dinge voraus. Zum einen: geistige und sittliche Autarkie des Individuums, um sich Lebensziele und Lebensweise eigenständig aussuchen zu können, weswegen Mill auch ein starker Befürworter von Pflichtschule und Selbstweiterbildung war. Zum anderen: Freiheit des Einzelnen von staatlichen und gesellschaftlichen Zwängen, welche nicht im Schutze der Freiheitsrechte und Entfaltungsmöglichkeiten anderer begründet sind. "Like other tyrannies, the tyranny of the majority was at first, and is still vulgarly, held in dread, chiefly as operating through the acts of the public authorities. But reflecting persons perceived that when society itself is the tyrant - society collectively over the separate individuals who compose it - its means of tyrannizing are not restricted to the acts which it may do by the hands of its government, wrong mandates instead of right, or any mandates at all. in things with which it ought not to meddle, it practises a social tyranny more formidable than many kinds of political oppression, since, though not usually upheld by such extreme penalties, it leaves fewer means of escape, penetrating much more into the details of life, and enslaving the soul itself. Protection, therefore, against the tyranny of the magistrate is not enough: there needs also protection against the tyranny of the prevailing opinion and feeling; against the tendency of society to impose, by other means than civil penalties, its own ideas and practices as rules of conduct on those who dissent from them; to fetter the development, and, if possible, prevent the formation, of any individuality not in harmony with its ways, and compel all characters to fashion themselves upon the model of its own. there is a limit to the legitimate interference of collective opinion with individual independence: and to find that limit, and maintain it against encroachment, is as indispensable to a good condition of human affairs, as protection against political despotism." (On liberty, p.73) Von Mill genannte Beispiele für unsinnige gesellschaftliche und verrechtlichte Sanktionen stellen puritanische Bestrebungen dar, sämtliche sonntägliche Vergnügungen zu verbieten, wie die oft haßerfüllte Verfolgung der Mormonen aufgrund der ihnen durch ihren Glauben (damals noch möglichen) Vielweiberei. Erst Wettbewerb zwischen verschiedenen Lebensformen und Freiheit der Wahl ermöglicht gesellschaftliche und individuelle Entwicklungen. Voraussetzung zur Entwicklung dieser Potenziale wiederum ist völlige Diskurs- und Meinungsfreiheit: "If all mankind minus one were of the contrary opinion, mankind would not be more justified in silencing that one person, than he, if he had the power, would be justified in silencing mankind. Were an opinion a personal possession of no value except to the owner if to be obstructed in the enjoyment of it were simply a private injury, it would make some difference whether the injury was inflicted only on few persons or on many. But the peculiar evil of silencing the expression of an opinion is, that it is robbing the human race; those who dissent from the opinion, still more than those who hold it. If the opinion is right, they are deprived of the opportunity of exchanging error for truth: if Wrong, they lose, what is almost as great a benefit, the clearer perception and livelier impression of truth, produced by its collision with error," (On Liberty, p. 85) Zusammengefasst: Individuelle Freiheit und Gestaltungsmöglichkeiten sind, durch das Ziel größtmöglichen Glücks, das nun einmal diese Freiräume bedingt, notwendig auch für die Weiterentwicklung von Gesellschaft und Menschheit unerlässlich; durch Erziehung und Bildung soll der Einzelne in die Lage versetzt werden, über sich, sofern er nicht in die Sphäre eindringt und diese schädigt, selbst zu bestimmen - bis hin zur Selbstschädigung und zum Selbstmord. Andererseits soll er hinreichend Einsicht in die Notwendigkeit auch kontroverser diskutiver Auseinandersetzungen erwerben und die Existenz anderer Denkens-, Empfindens- und Lebensformen als sinnvollen Pluralismus, der von ihm nur auf dem Wege des Überzeugens verändert werden kann, annehmen können. Für die Phase der gesellschaftlichen Transformation hin zu mehr individueller Freiheit und damit mehr Gleichheit sowie des Aufstiegs der Arbeiterklasse hoffte Mill auf den moderierenden Einfluss einer geistig-moralischen Elite zwischen der hergekommenen feudal-aristokratischen und der noch zu ungebildeten, daher potenziell nur einseitigen Klassenherrschaft durch andere einseitige Klassenherrschaft nur ersetzenden Arbeiterschaft. In seinen "Considerations" selber führt Mill diese Auseinandersetzung zwischen den beiden Mühlsteinen: Nachdem die Furcht vor Demokratisierung die Furcht vor der Arbeiterschaft war, musste er rationale Argumente für demokratische Reformen finden, die andererseits wieder nicht zur sofortigen Übernahme durch die Arbeiterschaft führen durften. Mill befürwortete eine schrittweise Ausweitung des Wahlrechts, die Einführung des Frauenstimmrechts sowie ein personalisiertes Wahlrecht, das jeder Gruppe und jedem Individuum, das staatsweit über hinreichend Unterstützung verfügt, seine Vertretung sichert, ganz in dem Sinne, dass auch im parlamentarischen Rahmen der Wettstreit der Argumente möglich sein müsste: "... the parliament has an office... to be at once the nation's committee of grievances, and its congress of opinions; an area, in which not only the general opinion of the nation, but that of every section of it, and as far as possible of every eminent individual whom it contains, can produce itself in full light and challenged discussion ..." (Representative Government, p. 258). Wie andere ökonomische Klassiker erwartete Mill von der Zukunft die Stagnation des Wachstums des volkswirtschaftlichen Volumens, ohne deswegen wie andere in Pessimismus zu verfallen: vielmehr bestand für Mill die Hoffnung, dass Wirtschaft und Menschheit nun qualitativ wachsen würden, dass der "Gebra
uch der Ellenbogen" nicht mehr wünschenswert oder erforderlich wäre. Durch diesen Stillstand würde der Kapitalist durch die genossenschaftliche Assoziation der Arbeiter ersetzt; die durch die Selbstverwaltung auch im Bildungsstand angehoben würden. Schließlich war ihm die Aufhebung der intrafamiliären Knechtschaft der Frau, die Egoismus und Starrheit der Herrschaft tradierte, unabdingbares Erfordernis zur Etablierung einer freien Gesellschaft. Mill ist, abgesehen von seinen zeitbedingten Beschränktheiten - wie etwa in seiner Befürwortung von Pluralstimmrecht für Bildungsschichten - nach wie vor angesichts seines Eintretens für individuelle Freiheit in der Massengesellschaft aktuell. Im englischsprachigen Raum ist "On Liberty" das Werk, das es zu widerlegen gilt, wenn der Eingriff in die Rechte des Einzelnen argumentiert wird. Die Stimme der Vernunft ist leise. Mill, der keine heroischen oder eschatologischen Geschichts- und Gesellschaftskonzeptionen vertrat, war und ist wohl auch gerade deswegen nicht so populär wie andere.