Vermutlich wissen die ÖsterreicherInnen über den amerikanischen Strafprozess besser Bescheid als über den österreichischen; JusstudentInnen machen da keine Ausnahme. Umso größer die Überraschung während der Gerichtspraxis: Der erwartete "Kampf" zwischen Verteidiger und Staatsanwalt findet nicht statt.
Zwar findet sich im "Strafverfahren" von Platzgummer ein kurzer Absatz, in welchem der Charakter des Strafprozesses als echter Parteiprozess in Frage gestellt wird; da jedoch kaum jemand während des Studiums einen Strafprozess miterlebt, bleiben (zivilprozessuale) Vorstelllungen dominierend, die sich während der Gerichtspraxis als realitätsfremd erwiesen.
Gemäß § 448 StPO obliegt die öffentliche Anklage im Verfahren vor den (Straf-)Bezirksgerichten den Bezirksanwälten, die nicht rechtskundig sein müssen. Diese programmatische Bestimmung ist jedoch höchst irreführend, erfährt sie doch durch das Staatsanwaltschaftsgesetz 1986 und dessen Durchführungsverordnung erhebliche Einschränkungen. Die Bezirksanwälte üben ihre Tätigkeit unter der Leitung und Aufsicht von Staatsanwälten aus und haben, außer bei Gefahr im Verzug, bei allen Anträgen und Erklärungen eine Weisung abzuwarten (§ 41 Abs 1 DV-StAG); Abs 2 enthält eine (enge) Ausnahmeregelung. Als Partei tritt der BA in der Hauptverhandlung nicht in Erscheinung; er begnügt sich damit, den Strafantrag vorzulesen und sporadisch Fragen an Zeugen und Sachverständige zu stellen.
Bei übertriebenem Engagement zieht er sich den Unwillen des Gerichts zu, ja einmal habe ich sogar erlebt, dass eine Bezirksanwältin vom Verteidiger rüde unterbrochen wurde, ohne dass die Richterin darauf reagierte.
Da der BA nie eine Rechtsmittelerklärung abgibt (obwohl er dazu grundsätzlich berechtigt wäre), werden auch Freisprüche frühestens vor Ablauf der 3-tägigen Anmeldefrist rechtskräftig. Ihre Aufgabe, die sich auf bloße Anwesenheit in der Hauptverhandlung beschränkt, wird von den Bezirksanwälten selbst als unbefriedigend empfunden. Weil ihr Beitrag zur Wahrheitsfindung praktisch bedeutungslos ist, nähert sich das Verfahren tendenziell dem Inquisitionsprozess, die Unbefangenheit des Gerichts ist gefährdet. Erschwerend kommt hinzu, dass keine förmliche Voruntersuchung stattfindet. Weiters ist rechtspolitisch bedenklich, dass der Staatsanwalt, welcher an sich auch zur Wahrung der Interessen des Beschuldigten verpflichtet wäre, über die Anklage disponiert, ohne an der Hauptverhandlung teilzunehmen. So entscheidet er über die Erhebung von Rechtsmitteln im Wesentlichen aufgrund der Aktenlage. Sinnvoller erschiene mir eine größere Selbstständigkeit der Bezirksanwälte in Verbindung mit der Anhebung der Qualifikation, wie etwa bei den Rechtspflegern.
Die Strafverteidiger sind sehr jung (Ende 30) und dementsprechend unroutiniert. Anscheinend wird grundsätzlich der Konzipient geschickt. Der Umstand, dass dennoch überraschend viele Parteien mit ihren Vertretern zufrieden sind, beruht oft auf einer Fehleinschätzung von deren Engagement (wer kommt schon auf den Gedanken, dass Petrocelli in Wirklichkeit ein "Kostenschinder" ist, der in die nächste halbe Stunde kommen möchte?) oder fachlicher Qualifikation (wenn sie etwa durch hektische Aktivität ihr Mandat zu rechtfertigen versuchen). Auf den Ausgang des Verfahrens hat dies freilich keinen Einfluss.
Sind der Beschuldigte, aber auch der Privatbeteiligte unvertreten, so wirkt sich das meist nicht zu ihren Ungunsten aus. Die RichterInnen sind durchaus bemüht, ihrer Manuduktionspflicht nachzukommen oder etwa dem Beschuldigten die Möglichkeit zu geben, Fragen zu stellen; in Anwesenheit von VertreterInnen hingegen wird meist "über ihre Köpfe hinweg" verhandelt. Das Recht des Angeklagten auf Aussagen etwas zu entgegnen (§ 248 Abs 4 StPO) wird sehr restriktiv gehandhabt, weiters gehen die RichterInnen unter Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz selbstverständlich davon aus, dass auf die Lesung verzichtet wird, "der gesamte Akteninhalt" wird als "verlesen" protokolliert, ausdrückliche Verzichtserklärungen der Parteien sind selten.
Die Rechtsschutzgewährung hängt somit in erster Linie von den RichterInnen ab, wobei das Schwergewicht naturgemäß auf der richtigen Lösung der Tatfrage liegt. Dabei gibt es krasse Unterschiede; nicht selten fließen etwa vorhandene Vorstrafen massiv in die Beweiswürdigung ein, doch wurden meine Vorurteile gegenüber der Strafgerichtsbarkeit im Allgemeinen nicht bestätigt. Die - dessen ungeachtet - notwendigen Verbesserungen hätten m.E. bereits beim Studium anzusetzen, da bei der Aufnahme in den richterlichen Vorbereitungsdienst mehr Gewicht auf disziplinäres Wohlverhalten denn auf menschliche und fachliche Eignung gelegt wird.
Das Leben ist kein Film