Stangl sieht gute Gründe, diese Frage gerade in Österreich zu stellen. Schließlich haben die Anklagepolitik der Staatsanwaltschaft und die Rechtsprechungspolitik der Strafrichter dazu geführt, dass Österreich das Land mit der höchsten Gefangenenrate in Westeuropa ist. Die Ursache für diesen Zustand sieht der Grazer Rechtssoziologe in der seit dem 19. Jahrhundert fortschreitenden Verstaatlichung des Strafverfahrens. Hand in Hand damit übernahm der Staat auch alle Verantwortung für den Schutz des Bürgers vor Kriminalität Neue naturwissenschaftliche Methoden zur Einteilung der Menschen in "geborene" Verbrecher und "normale" Bürger (Psychologie, Anthropologie) lieferten die ideologische Rechtfertigung für das "Wegsperren" von Delinquenten. Die exakte Klassifikation der Straftäter in charakterologische Kategorien und die Applizierung der richtigen Strafe könne, so die Überzeugung der Rechtspolitiker, jede Tätergruppe von einem Rückfall abhalten. Zentrale Bedeutung kam bei diesem Konzept den Gefängnissen zu, in denen die "Besserung" erfolgen sollte. Die empirische Forschung zeigt jedoch, dass die ResozialisierW1g in Strafanstalten nicht funktioniert - ebenso wenig wie die Abschreckung durch Gefängnis- oder andere Strafen. Stangl sieht die Lösung dieser Probleme nicht in weiterer Rückfalls- und Prognoseforschung oder in der Verbesserung von Haftbedingungen, sondern in der Hinwendung zu völlig neuen Modellen des Strafverfahrens im Sinne einer Konfliktregelung. Was Konfliktregelung heißt, wie ein derartiges Verfahren läuft und welche Grundsätze dabei zu beachten sind, erläutert Wolfgang Stangl anhand von Erfahrungen, die mit entsprechenden Justizexperimenten bereits in Österreich gemacht wurden - wobei auch die Frage der Finanzierbarkeit derartiger Modelle zur Sprache gebracht wird.
STRAFRECHT UND SOZIOLOGIE
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