Wenn Robert Kagan Recht hat, dann sind die Amerikaner vom Mars und die Europäer von der Venus.1 Bei den Cowboys vom Mars wird nicht lange gefackelt. Verhandlungen gibt’s nicht. Sofort rauchen die Colts. Die Welt wird unterteilt in Gute und Schurken. Die Schurken werden von den Guten aufgeknüpft. Ihre Wohnstätten werden demoliert. So verhält es sich in den internationalen Beziehungen. Ähnlich ist es in der Arbeitswelt. Auf hire folgt fire. Das ist der martialische Weg. Europa ist liebenswürdiger. Auf internationaler Ebene ringt man geduldig um den Frieden. Die Lehrbücher des Arbeitsrechts bestehen (noch) nicht aus leeren Seiten. Wir haben ein Sozialmodell. Europa ist anders. Es ist besser. Aus der Sicht der guten Europäer gehört Amerika kraft Selbstzuordnung zur Achse des Bösen (jedenfalls, was die Sozialpolitik angeht). Ich bin geneigt, die Dinge so zu sehen. Als liebenswürdiger Europäer bin ich versucht, die politische Unterscheidung zu akzeptieren, der die Beschwörung des „Europäischen Sozialmodells“ entspringt. America is ugly, Europe is sweet. Wegen meiner Neigung, die Dinge so zu sehen, habe ich den vorstehenden Bericht von Rack und Fraiß mit beträchtlicher patriotischer Begeisterung gelesen. Ich gewinne den Eindruck, dass die verschiedensten Versammlungen im Umkreis des „Verfassungskonvents“ und die ihm zugeordneten Ausschüsse dabei sind, den Integrationsprozess auf die Zielgerade zu bringen. Mit der Aussicht auf ein handliches Verfassungsdokument hat das nichts zu tun. Ein solches ist ohnedies nur eine Sache der public relations.2 Ich sehe vielmehr die Integration bei dem Problem ankommen, das eine ihrer wichtigsten Ursachen darstellt. Es geht um die soziale Frage. Die Union beginnt das zu begreifen. Den lenkenden Stellen und ihren Leistungsträgern ist wohl gedämmert, dass, wenn sich die Europäischen Bürgerinnen und Bürger überhaupt für etwas in der Europäischen Union interessieren, es die Zukunft ihrer sozialen Sicherung und ihrer sozialen Rechte ist. Dieses Interesse ist konsistent europäisch. An ihm manifestiert sich historische Kontinuität. Das wird mitunter vergessen. Die Vorgeschichte der Integration wird gerne als eine Geschichte des nationalistischen Wahns erzählt. Das ist nicht falsch. Aber man gelangt auf diesem Weg nur zu einer halbierten Beschreibung. Ohne soziale Probleme hätte es keinen nationalistischen Wahn gegeben. Die Vorgeschichte des Integrationsprojekts ist auch die Geschichte von sozialen Kämpfen (sogar von Klassenkämpfen, huch!). Sie lässt sich als Ringen um das Europäische Sozialmodell verstehen, in das ironischerweise noch die EG verwickelt worden ist. Die EG ist ein Projekt des Kalten Krieges.3 Die Marsmenschen waren bei ihrer Gründung dabei (auch wenn sie lieber unsichtbar geblieben sind). Jetzt scheint der Punkt erreicht zu sein, an dem die EU mit einer Nachkriegsordnung aufräumen könnte, deren letztes Relikt sie in gewisser Weise selbst darstellt. Sie kann über sich selbst hinauswachsen. Das ist eine große Chance. Weil ich die Dinge so sehe, muss ich Zweifel an einer Einschätzung anbringen, die in dem Beitrag von Rack und Fraiß wenigstens implizit zum Ausdruck kommt. Demnach hat die EU momentan keine sozialpolitisch relevante Verfassung. Das zu behaupten, ist kurzsichtig. Die EU hat eine soziale Verfassung und insofern schon jetzt ein Sozialmodell.4 Die Grundfreiheiten und das Wettbewerbsrecht lassen sich als die beiden Pfeiler dieses Modells deuten, das in Europa im Verfassungsrang steht.5 Es handelt sich um ein Sozialmodell, das die Wahrnehmung nationaler Gemeinwohlinteressen gravierenden rechtlichen und politischen Beschränkungen unterwirft.6 Nach Ehlermann hat Europa die am deutlichsten marktwirtschaftlich orientierte Verfassung der Welt.7 Die EU hat eine solche in einem höheren und intensiveren Maße als die Marsmenschen links vom nördlichen Atlantik. Deren Höchstgericht hat es Ende der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts aufgegeben, die Vertragsfreiheit für ein Verfassungsprinzip zu halten und damit der Sozialpolitik verfassungsrechtlich den Weg geebnet.8 Deswegen ist die Sozialgesetzgebung aus verfassungsrechtlicher Sicht auf dem Mars geringeren Einschränkungen unterworfen als auf der Venus. In einer Gemeinschaft, in der die Artikel 86–89 EG Vertrag (betreffend öffentliche Unternehmungen und staatliche Beihilfen) und Präzedenzfälle wie Decker9 oder Albany10 in Kraft sind, sind der nationalen Sozialpolitik scharfe Grenzen gezogen. Die Debatte um das Sozialmodell, die nunmehr in Gang kommt, erlaubt es der Union, sich ihre politische Rigidität nach dem Ende der Nachkriegsordnung vor Augen zu führen.11 Eine solche Debatte sollte mit verfassungsvergleichender Umsicht und politikwissenschaftlichem Vorwissen geführt werden. Es wird nicht angehen, es wie Rack und Fraiß mit den Marsmenschen zu halten,12 und die Verbürgung sozialer Rechte als gegen die „Denklogik“ verstoßend abzutun.13 Die Italiener können mit sozialen Rechten sinnvoll judizieren,14 auch den Ungarn ist das nicht fremd.15 Auch macht es keinen Sinn, das Europäische Sozialmodell der Zukunft einfach als die „soziale Marktwirtschaft“ auszugeben.16 Einerseits nähme man damit pars pro toto, d.h. das konservative Sozialmodell kontinentaleuropäischer Staaten für das Ganze, und übersähe andererseits die Vielfalt von Sozialmodellen, die in europäischen Staaten realisiert worden sind.17 Vor der Integration solcher Modelle zu einem universalistischen europäischen Modell schreckt man heute allgemein zurück.18 Das liegt aber nicht daran, dass seine (partielle) verfassungsrechtliche Garantie der „Denklogik“ widerspräche, sondern vielmehr daran, dass es an den politischen Voraussetzungen für seine Einführung mangelt. Sie liegen auf der Hand. Es gibt keine Sozialdemokratie mehr, die als solche erkennbar wäre. Außerdem gibt es auf europäischer Ebene keine parlamentarische Demokratie.19 Deswegen verbleibt – und darin stimme ich den Autorinnen zu – zur Konturierung des Sozialmodells nur die neuerdings allseits beliebte Alternative zur Integration. Statt Integration gibt es Konvergenz. Sie ist etwa durch die Anwendung der open method of coordination zu bewirken. Aber all das ist keine Frage der „Denklogik“. Das Europäische Sozialmodell existiert noch nicht. Man muss es angesichts der abnehmenden Problemlösungskapazitäten nationaler Wohlfahrtsstaaten entwickeln.20 Es wird, wie jedes Sozialmodell, insofern konservative Züge haben, als es von einer Erinnerungsspur getragen sein wird; diesmal aber nicht von der Erinnerung an vorkapitalistische Solidaritäten, sondern an den Ruhm des nationalen europäischen Sozialstaats. Seine Zerschlagung durch den Liberalismus des Binnenmarktes muss abgewendet werden. Andernfalls wäre die Integration, zumal sie in Europa stattfindet, zum Scheitern verurteilt.
- 1. Siehe Kagan, Power and Weakness, Policy Review 113 (2002), http://www.policyreview.org/JUN02/kaan_print.html.
- 2. Für eine ähnliche Beobachtung betreffend die Grundrechtscharta siehe Haltern, Europe Goes Camper. The EU Charter of Fundamental Rights From a Consumerist Perspective, http://les1.man.ac.uk/conweb/.
- 3. Siehe dazu bloß Dinan, Ever Closer Union. An Introduction to European Integration (2d ed 1999) 29–35.
- 4. Man denke bloß daran, dass am Beginn des Integrationsprozesses die Sozialpolitik weitestgehend als Marktintegration und Mobilitätsförderung verstanden worden ist. Siehe dazu Streeck, Vom Binnenmarkt zum Bundesstaat? Überlegungen zur politischen Ökonomie der europäischen Sozialpolitik, in Leibfried/Pierson (Hrsg.), Standort Europa. Europäische Sozialpolitik (1998) 369–421 (379f); Syrpis, The Integrationist Rationale for EU Social Policy, in Shaw (ed), Social Law and Policy in an Evolving European Union (2000) 17–30.
- 5. Siehe dazu jüngst Cruz, Between Competition and Free Movement. The Economic Constitutional Law of the European Community (2002) 71.
- 6. Siehe dazu allgemein Scharpf, Governing in Europe. Effective and Democratic? (1999).
- 7. Siehe Ehlermann, The Contribution of EC Competition Policy to the Single Market (1992) 29 Common Market Law Review 257.
- 8. Siehe West Coast Hotel v. Parrish, 300 U. S. 379, 391 (1937); einführend dazu Somek, Rationalität und Diskriminierung. Zur Bindung der Gesetzgebung an das Gleichheitsrecht (2001) Kap 5.
- 9. Siehe Rs C-120/95, Decker v Caisse de Maladie des Employés Privés, Slg 1998, I-1831
- 10. Siehe Rs C-67/96, Albany International BV v Stichting Bedrijfspensioenfonds Textielindustrie, Slg 1999, I-5751.
- 11. Siehe dazu auch Somek, Constitutional Treaty. A Comment on the Legal Language of the European Union, Annual of German and European Law (in Druck).
- 12. Siehe Dandridge v Williams, 397 U. S. 471 (1970), wo der Supreme Court die verfassungsrechtliche Verankerung von Wohlfahrtsrechten ablehnte.
- 13. Wobei man den Marsmenschen zu Gute halten muss, dass sie so grässliche Ausdrücke wie „Denklogik“ nicht verwenden würden, weil sie immer gleich pragmatische Gründe und Überlegungen zur Gewaltenteilung auf den Tisch legen. Was, so frage ich mich, fügt das „Denk“ der „Logik“ noch hinzu? Ist nicht Logik die Disziplin des „richtigen“ Denkens?
- 14. Das führt übrigens zu potentiellen Konflikten mit dem europäischen Wettbewerbsrecht. Siehe Giubboni, Social Insurance Monopolies in Community Competition Law and the Italian Constitution: ,Practical‘ Convergences and ,Theoretical‘ Conflicts (2001) 7 European Law Journal 69–94.
- 15. Siehe den „Hungarian Benefits Case“, 43/1995 (VI 30) AB Decision (Constitutional Court of Hungary), (1997) 4 Eastern European Case Reporter, Constitutional Law 64.
- 16. Dass die Leute im Arbeitskreis des Konvents auch diesen Ausdruck im Mund führen, macht ihn in der Sache nicht angemessener. Es macht die ganz Angelegenheit sogar schlimmer. Siehe Working Group XI „Social Europe“, WG XI WD 038 REV 1, http://register.consilium.eu.int/pdf/en/03/cv00/CV00516-re01en03.pdf, para 6, p 7.
- 17. Siehe dazu den Klassiker von Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism (1990).
- 18. Siehe dazu Scharpf, The European Social Model: Coping with the Challenges of Diversity (2002) 40 Journal of Common Market Studies 645–670.
- 19. Ich folge an diesem Punkt Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (1995).
- 20. Siehe Scharpf, Democratic Legitimacy under Conditions of Regulatory Competition: Why Europe Differs from the United States, in Nicolaidis/Howse (eds) The Federal Vision. Legitimacy and Levels of Governance in the United States and the European Union (2001) 355–374.