Der Anlass für das Thema dieser Ausgabe liegt auf der flachen Hand. In der Zeit der Umstürze in den Ländern des real nicht existierenden Sozialismus geraten auch in den Ländern des Westblocks einige Vorstellungen von "Freiheit und Demokratie" ins Wanken. Nicht nur bei den Verfechtern des Schulbuch-Kommunismus, für die nun eine Welt zusammenkracht. Auch die nicht weniger problematischen Prediger der real nie existierenden Freiheit im Kapitalismus stoßen mit ihren vorlauten Sprüchen vielerorts nicht mehr so gut an. Konnten sie noch vor nicht allzu langer Zeit jedem Kritiker des hiesigen Systems, der sich als "Stalinist" entlarvte, ein "geh doch rüber!" an den Kopf werfen und damit die Lacher auf ihre Seite ziehen, müssen sie jetzt konsterniert feststellen, dass sie weder zuletzt noch am besten lachen. Wie manche Geisteskranke können sie jedoch nicht aufhören zu lachen - nur klingt das jetzt anders: hämisch. Bedauerlicherweise entspricht die Psychopathologie dieses Lachens den realen politischen Entwicklungen im Osten, und beides entspricht der Logik des kapitalistischen Weltmarktes, dem die Länder der sogenannten "zweiten Welt" immer unterworfen waren, weil sie es nicht zu einem realen Sozialismus gebracht haben, zu dem sie es nicht brachten, weil sie immer dem kapitalistischen Weltmarkt unterworfen waren.

In den Volksbewegungen des Ostens tritt nun zutage, dass dort eine soziale und politische Realität geherrscht hat, die von der gelobten westlichen so sehr verschieden gar nicht war. Dies zeigt sich daran, dass drüben wie hierzulande die überwiegende Mehrzahl der Menschen der großen Abenteuergeschichte der "freien Wirtschaft" anhängt, die allen Wohlstand verspricht, den sich dann die Geschichtenerzähler teilen. Und so bleibt es in den Ländern des real nicht zustande gekommenen Sozialismus wie bei uns den Dissidenten vorbehalten, die Lage aus der Perspektive einer eigentlich menschlichen Freiheit zu beurteilen. Jene, die sich jahrzehntelang mit der Macht der Planungsbehörden, der Einheitsparteien, der Staatssicherheitsdienste, der Regierungsmedien etc. konfrontiert sahen, treffen nun dank offener Grenzen und Kommunikationswege mit jenen zusammen, die sich jahrzehntelang mit der Macht der Konzerne, der sozialpartnerschaftlichen Verbände, der Staatssicherheitsdienste, der großen Medien etc. konfrontiert sahen. Nicht nur in dieser polemischen Gegenüberstellung zeigt sich, dass sich oft nur die Begriffe voneinander unterscheiden. Sind den östlichen Systemen nun ihre Bürokratie zu unflexibel und repressiv geworden, um in einer kapitalistischen Welt zu reüssieren, so drängen die westlichen Systeme rasant zu neuer Bürokratisierung und Repression, um sich zu behaupten. Beide stehen vor einem gemeinsamen Problem: sich zwischen Liberalität und Repression, zwischen sozialer Sicherheit und Konkurrenzkampf so einzurichten, dass sie dem arbeitenden Volk größere Leistung zu geringeren Kosten abpressen und gleichzeitig politischer Konflikte, wie sie eine Zwei-Drittel-Gesellschaft mit sich bringt, Herr werden können. Am Ende dieser Entwicklung steht dann der Triumph westlich-subtiler, flexibler, effizienter Machttechnik in menschenfreundlicher Verkaufsverpackung über eine in Drittel geteilte Bevölkerung im "gemeinsamen Haus" Europa. Jetzt darf gelacht werden.

Die Angleichung des Ostens nicht nur an die westliche Wirtschaft, sondern auch an das westliche politische und rechtliche System zeigt sich bereits allerorten. Im rechtlichen Bereich wird heftig "liberalisiert". Zunächst natürlich im Wirtschaftsrecht, da der Bedarf nach privatem Kapital enorm ist. Manchmal ist es geradezu frappierend, wie einfach das geht: In der DDR beispielsweise brauchen nur die - zum Teil formell nie außer Kraft gesetzten - Bestimmungen des deutschen (na eben) Handels- und Gesellschaftsrechts wieder aus den Schubladen geholt zu werden. Diese sind zwar durch die "realsozialistische" Verwaltungsstruktur überwuchert worden, aber mit ein paar dementsprechenden Anpassungen läuft der Laden wieder. Sodann wird das bürgerliche "Rechtsstaats"-Konzept übernommen, das in der Einrichtung einer eigenen Verfassungsgerichtsbarkeit gipfelt. Das alles geschieht unter heftiger Akklamation der westlichen Medien und der Bevölkerung. Von so einem freiheitlichen Rechtsstaat kann man sich ja auch wirklich einiges erhoffen - außer man kennt ihn schon. In diesem Fall weiß man nämlich, dass er bei Bedarf geschlossen wird. Was das heißt, kann man zur Zeit in ganz Westeuropa mitverfolgen: Sobald sich soziale Konflikte zuspitzen und der Staat das Bedürfnis hat, die freiheitlichen Grundrechte seiner Bürger einzuschränken, damit er nicht die Kontrolle über sie verliert, tut er das. Er tut es, wenn es leicht geht, unter Bemühung des demokratisch mehr oder weniger legitimierten Gesetzgebers (wenn nicht, dann streitet er unter Zuhilfenahme der Medien wenigstens ab, dass er überhaupt irgendetwas tut).

Die Medien sind generell ein wesentlicher Bestandteil des "Rechtsstaates": Sie werden benötigt, um etwaige Vorwände für dessen tendenzielle Umwandlung in einen Polizeistaat glaubhaft zu vermitteln. Als solche taugen zum Beispiel: Bekämpfung von Drogenkriminalität, Terrorismus, illegaler Einwanderung, Überfremdung und dergleichen mehr. Unter solchen Titeln lassen sich dann Behörden mit umfassenden Befugnissen ausstatten, und zwar in einer Form, die die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Erteilung und der Ausübung dieser Befugnisse durch das Prunkstück des "Rechtsstaates" - das Verfassungsgericht - möglichst erschwert bis verunmöglicht. Als nächstem Schritt geht es darum, dem Gesetzgeber (demok

ratisch, mehr oder weniger) möglichst unbemerkt möglichst viel Macht zu entziehen: Indem man den Behörden Instrumente für präventives und "eigenständiges" Handeln in die Hand gibt. Dafür bietet sich zum Beispiel im Bereich der Datenverarbeitung eine unübersehbare Fülle von Möglichkeiten an. Da die Beherrschung sozialer Konflikte auf nationaler Ebene längst nicht mehr zu bewältigen ist, bedarf es nun noch der Vereinheitlichung und Vernetzung der Behördenaktivität im internationalen Maßstab, die sich ebenfalls schon in vollem Gang befindet. Die Bürgerinnen und Bürger des Ostens können sich also auf einiges gefasst machen. Der im Aufbau befindliche Europäische Sicherheits- und Polizeistaat übertrifft mit Gewissheit alles, was sie bisher kennengelernt haben.

Eine neue Solidarität ist vonnöten, um in der künftigen gemeinsamen Geschichte seinen Platz als fortschrittliche Bewegung zu finden. Erste, vereinzelte Kontakte sind bereits vorhanden, für den kommenden Sommer ist ein Kongress von interessierten Personen aus den Bürgerbewegungen Ost- und Westeuropas in Südfrankreich geplant (die Redaktion steht für Auskünfte gerne zur Verfügung).