STAATSBETRIEBE AMSCHEIDEWEG

Nach Überwindung der formalen und ineffektiven Selbstverwaltungsrechte der alten sozialistischen Wirtschaftsordnung stehen alle Möglichkeiten offen. Ein neues Gesetz hat jetzt für eine entschieden, ob für die richtige, ist zumindest fraglich. Das im April beschlossene Gesetz hat gegen die Selbstverwaltung entschieden: Alle Staatsunternehmen der CSFR werden von einem Management geleitet, das vom zuständigen Ministerium eingesetzt wird. Daneben existiert ein Aufsichtsrat, dessen Mitglieder zur Hälfte das Ministerium ernennt, zur anderen Hälfte die Belegschaft wählt. Warum haben sich die Tschechen und Slowaken so strikt gegen Demokratie in der Wirtschaft ausgesprochen? Die Argumente der Regierung haben viel für sich: Erstens braucht man dringend ausländisches Kapital, das durch Experimente nicht abgeschreckt werden soll, und zweitens haben die Menschen verlernt zu arbeiten. Denn Innovationsbereitschaft, Kreativität und Fleiß waren nicht gefragt, ja wurden als Nonkonformismus und Gefahr für die Partei verurteilt und bestraft. Abgestumpft und frustriert haben die Menschen den Staat dafür bestohlen, wo es möglich war - und die Gelegenheit dazu bot sich am ehesten bei der Arbeit. Eingeübte Gewohnheiten und Haltungen können aber nicht von einem Tag auf den anderen abgelegt werden. Die Befürchtung liegt daher nahe, dass verunsicherte Arbeitnehmer - wie in der Vergangenheit schon oft - den Direktor wählen würden, der ihnen statt dringend notwendigen Investitionen kurzfristige Lohnerhöhungen und kurzfristigen Schutz vor Entlassung bietet. Diese Gesetz hat dagegen das einfachste Rezept gewählt: Entmündigung der Arbeitnehmer. Gleichzeitig ist das Paradoxon eingetreten, dass die Privatisierung mit stärkerer Etatisierung eingeleitet wird. Die Regierung spricht von einer Übergangslösung - Manager sollen die Bürokraten nach und nach ersetzen. Wer aber wird die Aktien der neuen Gesellschaften kaufen? Inländisches Kapital ist kaum vorhanden, und wenn, dann ist es zweifelhaft erworben: Viel Geld haben in der Tschechoslowakei nur Geldwechsler und kommunistische Parteifunktionäre. Ausländischem Kapital kann man nicht alles überlassen: Der völlige Ausverkauf wäre unvermeidlich. Beteiligung - die Lösung: Eine Gruppe von Abgeordneten des Občanské forum (Bürgerforum) hat sich gegen das Gesetz gestellt und schlägt die Übernahme des ESOP-Systems vor. (Employee Stock Ownership Plan) In den USA arbeiten nach diesem System 8 Millionen Menschen. Dabei gehen Teile des Unternehmens ins Eigentum der dort Beschäftigten über, indem sie Teile des Lohnes in Aktien des Unternehmens erhalten. Sie entwickeln so Interesse an langfristigen Investitionen und übernehmen direkte Mitverantwortung für ihren Betrieb. Die Bereitschaft, vorübergehende Lohnkürzungen in Kauf zu nehmen, steigt. Die staatliche Bürokratie ist dagegen kaum in der Lage, diese Haltung in ihnen zu wecken. Die Vertreter dieses Modells meinen, dass gerade aus den Reihen des Betriebes die zukünftigen Manager hervorgehen könnten - sie kennen ihren Betrieb, sie haben Fachkenntnis. Ein Gelingen dieses Versuchs, inländisches Kapital zu schaffen und gleichzeitig die Menschen zu Arbeit und demokratischer Mitbestimmung zu motivieren, wäre nicht garantiert. Man müsste den Erfolg ähnlicher Modelle in kapitalistischen Staaten prüfen und untersuchen, ob daran wirklich mehr Mitbestimmung möglich ist. Wenn aber sogar Milton Friedman, Vertreter der reinen monetaristischen Lehre, vor einem Ausverkauf der Staatsbetriebe warnt und sich positiv zu betrieblicher Selbstverwaltung im ehemaligen Ostblock stellt, können diese Argumente nicht übergangen werden. Moralische Krise: Die Gesellschaft steckt in einer tiefen moralischen Krise. Zu ihrer Überwindung bedarf es aller verfügbaren Mittel - das Arbeitsleben darf da nicht beiseite geschoben werden.

Dass die moralische und wirtschaftliche Stagnation hier allein durch staatsbürokratische Maßnahmen überwunden werden kann, ist ausgeschlossen. So hat die größtenteils unfähige und korrupte mittlere Staats- und Wirtschaftsbürokratie schon erfolgreiche Gegenstrategien zu den laufenden und geplanten Reformen entwickelt. Ein Kenner der Situation hat unlängst in der Wochenzeitung "FORUM" unter dem Titel "Sanfte Stagnation" als Pendant zur "Sanften Revolution" im November - einige Thesen dazu entwickelt. (Forum 15/90, S.S). Tenor seiner Aussagen: Der KSC wurde die Macht de iure genommen - de facto hat sie sie immer noch. Zwar wurden viele kommunistische Kader aus den höheren Etagen der Staatsverwaltung entfernt, in den Betrieben haben aber nach wie vor die vom alten Regime eingesetzten Bürokraten das Sagen. In den Betrieben sind sehr bald gut funktionierende Gruppen entstanden, deren einziges Ziel die Verteidigung von Stellung und Privilegien ihrer Mitglieder ist. Die Führungsmafia hält zusammen und man kann gewisse Grundsätze erkennen, nach denen sie dabei vorgeht: So viele (aktive oder ehemalige) KSC-Mitglieder wie möglich in den leitenden Funktionen halten. Nur die "kleinen Fische" opfern oder jene, die knapp vor der Pensionierung stehen. Soweit das nicht gelingt, versuchen die Abberufenen "sanft aufzufangen". Diese Leute fallen nur eine Reihe zurück in der Hierarchie; sie bekommen z.B. den Posten eines "Beraters". Diese Vorgangsweise wird mit der "Fachkenntnis" des Abberufenen begründet. Die Abwechslung leitender Mitarbeiter für beendet erklären, soweit diese nicht unter öffentlichen Druck geraten. Leitungsposten, die unter dem Druck der Arbeiter und Bürgerforen geräumt werden müssen, mit parteilosen Angehörigen der niedrigeren Hierarchiestufen besetzen, die der früheren Leitung aus irgendeinem Grund verbunden sind. Mitarbeiter, die sich in Bürgerforen engagieren, nicht direkt angreifen, sondern ihnen den Aufstieg in die Führungsgremien verunmöglichen. Sie in Ruhe lassen und langsam ihren direkten Draht zur Leitung unterbrechen, den sie während der Revolution aufgebaut haben. Soweit Mitglieder der Bürgerforen in öffentlichen Funktionen tätig sind, ihnen volle Freiheit und Erleichterungen gewähren, im Betrieb aber kaltstellen. Um jeden Preis verhindern, dass westliche Managementberatungsfirmen in den Betrieb kommen oder diese abwimmeln. Der breiten Basis der Beschäftigten möglichst keine Informationen über die tatsächliche wirtschaftliche Situation des Unternehmens zukommen lassen, die oft katastrophal ist. Solche Informationen geben, die wohl bestimmte Schwierigkeiten andeuten, aber im großen und ganzen Optimismus verbreiten. Das Interesse der erwachenden Gewerkschaften auf zweitrangige Probleme lenken (z.B. Gesundheits- und Sozialeinrichtungen) und ihnen keine direkte Einsicht in die Wirtschaftstätigkeit des Betriebes gewähren. Politisch aktive Bürger, die unter dem Druck von unten oder oben in leitende Positionen gebracht werden müssen, auf undankbare Stellen zu setzen, für die sie nicht qualifiziert genug sind und in denen sie bald in Schwierigkeiten kommen. Ziel dieser weithin praktizierten Strategie ist wohl kaum die Rückkehr zu den alten Verhältnissen - es geht um reine Privilegierung. Manchen alten Kadern kann auch der Wille zur Erneuerung nicht abgesprochen werden. Aber ihre durch jahrelange Praxis "eingeübten" Fähigkeiten bilden weder eine genügende fachliche Basis noch die moralische Berechtigung, dieser radikalen Reformen durchzuführen. Niemand vertraut ihnen mehr. Die freien Wahlen der politischen Vertretungsorgane verschaffen hier keine Abhilfe: Der politische Bereich zieht sich aus der Wirtschaft zunehmend zurück; die zuständigen Ministerien allein können und wollen aber nicht die gesamte Wirtschaftstätigkeit überwachen und jeden leitenden Angestellten auf seine Fähigkeiten hin überprüfen. Unter den Beschäftigten breitet sich wieder Resignation und Passivität aus. Ein radikales Gegenmittel tut not - ist es die Selbstverwaltung? Es genügt nicht, die formalen Strukturen eines totalitären und verfaulten Systems zu beseitigen. Um es zu überwinden, müssen es die Menschen in sich überwinden. Sie müssen lernen, dass es einen Sinn hat, sein eigenes Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und sich mit gegebenen Herrschaftsstrukturen auch am Arbeitsplatz nicht abzufinden.